Neuer Pragmatismus als Moment einer historischen Krise des Politischen?

In den letzten Blog-Einträgen wurde pointiert ein pragmatisches Politik- und Wissenschaftsverständnis dargestellt. Unabhängig davon, ob die wissenschafts- und gesellschaftstheoretischen Grundlagen dieses Verständnisses an und für sich zu halten sind, möchte ich in diesem Beitrag einige konkretere Überlegungen anstellen, die m.E. belegen, dass ein derartiges pragmatisches Verständnis (emanzipatorischer) Praxis bestenfalls ein kleiner Teil der Wahrheit sein kann.

Es besteht kein Zweifel, dass Aspekte von dem, was als „experimentelles Politikverständnis“ im Blogeintrag von 27.8. vorgestellt wurde, von hoher Relevanz sind. Gerade für sich konstituierende soziale Bewegung, die sich beständig vor extrem komplexen Entscheidungskonstellationen gestellt sehen und stark auf spontane, nicht berechenbaren „Politiken des Moments“ aufbauen müssen, ist ein experimentelles Politikverständnis bedeutsam. Hier gilt, was schon die Zapatist_innen wussten: „preguntando caminamos“ (fragend schreiten wir voran).

Dies ist allerdings nur ein kleiner Teil dessen, was heute „das Politische“ ausmacht. Wollen wir das Politische wirklich umfassend verstehen, so müssen wir es auch in seiner Verstetigung durchdringen, die über den bloßen Moment hinausreicht und auch mehr ist, als nur die Summe der aneinandergereihten Momente. Auch neuere poststrukturalistisch inspirierte Demokratietheorien (z.B. die Ernesto Laclau, Chantal Mouffe, Jacques Rancière etc.) verstehen ähnlich wie der Pragmatismus das Politische wesentlich als „Ereignis“ bzw. als andauernde Fortsetzung von (radikal-)demokratischen „Situationen“, die sich wahlweise als „Antagonismus“ (Mouffe) oder „politische Subjektivierung (ohne politischer Identität)“ (Rancière) artikulieren.

Dies verkennt jedoch den historischen Charakter des Politischen. Ein kritisches gesellschaftstheoretisches Verständnis betont demgegenüber stets die historische Gewordenheit von sozialen Verhältnissen und betrachtet „soziale Logiken“, die zugespitzt eine gewisse Realität fassen mögen, nie als universell und transhistorisch geltende Prinzipien. Transhistorische Argumente – mögen sie nun explizit (sozialontologisch: so und nicht anders ist die Welt/der Mensch/ das Politische etc.) oder implizit (konstruktivistisch: wir reden nicht darüber woher etwas kommt, aber irgendwie ist es doch) sein – haben stets das Problem der Selbstbegründung. Demgegenüber stehen historisch-materialistische Ansätze, die (mit dem Konstruktivismus und gegen die Sozialontologie) zwar die Relativität akzeptieren, sie aber (gegen den Konstruktivismus und mit sozialontologischen Ansätzen) klar in Raum und Zeit verorten.

Ein historisch-materialistisches Politikverständnis möchte nun verstehen, wie es überhaupt zur Verstetigung menschlicher Handlungen im Politischen kommen konnte und versucht dies im Konzept sozialer Formen zu fassen, die spezifisch für die vorherrschende historische Formation sind. Praxis ist demnach niemals schlechthin zu fassen, sondern stets schon vor dem Hintergrund eines vorgefassten Korsetts an „Handlungsoptionen“, die sich tatsächlich zugespitzt als Set „sozialer Logiken“ (des Politischen) erfassen lassen.

Eine zentrale soziale Logik des Politischen ist die der Legitimation und der Identität: Damit das moderne Politische funktioniert, damit eine (stets illusionäre, nicht unmittelbar soziale, „fetischistische“) Form der Kollektivität hergestellt werden kann, die zur Entscheidungsmacht führt, bedarf es der Legitimation. Das soziale Ereignis und dessen Legitimation treten also auseinander. Legitimation erfolgt im modernen Politischen regelmäßig über den Staat bzw. sein Souveränitätsversprechen. Als Instanz, die immer (implizit, aber bisweilen auch explizit) auf die Existenz des Gewaltmonopols verweist, ist der Staat ganz klar am Besten in der Lage, Legitimationsfolien zu liefern, welche die bestehende gesellschaftliche Ordnung (der sozialen Formen) umfassend konservieren, ja sie selbst repräsentieren. Diese ideologischen Konzepte des Politischen, die abstrakt-philosophisch in zentralen Quellen des modern-aufklärerischen Denkens stipuliert sind (so z.B. den sogenannten „Vertragstheorien“, aber auch rechtspositivistischen und moralisch-normativistischen Politikonzeptionen), sind theoretisch zu kritisieren, sie stellen jedoch auch in der Praxis eine komplexe und ambivalente Problemkonstellation dar, die nicht einfach zu übergehen ist.

Deutlich wird dies v.a. dann, wenn politische Legitimation, die Findung einer (fiktiven) kollektiven Identität nicht mehr funktioniert. Aus zahlreichen Gründen, die mit der historischen Entwicklung der Form sozialer Verhältnisse überhaupt zu tun haben, stehen wir heute vermehrt vor Situationen, in denen die legitimatorische Logik des Politischen nicht mehr oder nicht mehr richtig funktioniert. Dies kann als „Krise des Politischen“ bzw. der historischen Form des Politischen überhaupt gedeutet werden. Gerade in den neuesten sozialen Bewegungen, die einen Bruch mit der vorgefundenen staatlichen Ordnung anstreben, wird dies auch als Identitätskrise deutlich. Sie sind gewissermaßen direkt von den breiteren Veränderungen betroffen, stehen unmittelbar vor neuen und radikal offenen Situationen. Dabei ist eben die Offenheit selbst neuartig: Die soziale Form des Politischen funktioniert zunehmend nicht mehr so, wie sie das früher getan hat. Damit wird die Politik der sozialen Bewegungen – prototypisch fassbar in der situativen „Entscheidung“ auf der Straße/im öffentlichen Raum – auf ganz andere Weise „experimentell“, als sie das früher war. Denn natürlich waren alle erruptionsartigen, mehr oder minder unvorbereitet-spontanen Transformationen, ganz klassisch die „revolutionären Situationen“, immer schon hochgradig von einer Unbestimmtheit und Offenheit des Moments geprägt. Gewissermaßen wie in einem Druckkochtopf verdichtet sich die ganze Komplexität und strukturelle Festigkeit der gewordenen historischen Verhältnisse räumlich und zeitlich soweit, dass bisweilen einzelne Entscheidungen (mitunter auch von wenigen Menschen) eine sonst systemisch nicht vorgesehene bzw. existente Relevanz erhalten. Dies könnte auch als „pragmatischer Moment“ des Politischen verstanden werden, der zwar nicht nur in der radikalen Transformation existent ist, hier allein aber umfassend zur Geltung kommt.

Allerdings war auch dieser Moment bisher niemals außerhalb der politischen Form an sich angesiedelt. Zumindest der legitimatorische und identitäre Aspekt des Politischen war immer zentral für die Möglichkeit sozialer Transformation. Ein gewisses Gefühl hierfür vermittelt vielleicht ein kulturelles Beispiel (das heute revolutionäre Identität ebenso notwendig wie selbstverständlich kulturindustrielles Produkt ist, spricht bereits für die Verhältnisse bzw. das krisenhafte in ihnen), das sich auf Youtube abrufen lässt:

Der Pathos und die Aufladung mit konstitutiven Ideologien des modernen Politischen werden für mich in diesem Ausschnitt aus dem (vor kurzem – erneut – verfilmten) Musical „Les Miserables“ sehr gut deutlich. Einerseits der Form nach – ganz offensichtlich wird wohl den meisten Menschen, die im modernen politischen Imaginären sozialisiert wurden, schnell eingängig sein, dass es hier um jene Art tragisch-heroischre Situationen handelt, die mehr als nur „unter die Haut gehen“. Denn in ihnen wird eine Art von identitärer Aufladung transportiert, die es erst bewerkstelligt ein (partielles, „experimentelles“ und zeit-räumlich beschränktes) „Wir“ zu konstituieren, welches wiederum zentral ist für die Kohäsion und eben jene situative „Entscheidung“, welche transformative Momente auszeichnet. Recht deutlich wird dies an Hand der Tatsache, dass genau jenes Lied aus dem bekannten Muscial nicht nur „prototypisch“ für jene identitäre Form steht, die immer schon Voraussetzung politischer Konstiturierung (und nicht erst ihr „experimentelles Resultat“) ist. Es wurde auch tatsächlich in zahlreichen der jüngeren Proteste und Kämpfe sinnbildlich verwendet, hat auf eigentümliche Weise selbst Wirkung gezeigt. Ursprünglich ja nur als kulturelles Imitat bzw. Abbildung gedacht, wurde es im Gezi-Park in der Türkei das Stück gesungen, es war auch Bestandteil zahlreicher Flash-Mobs, spontaner politischer Artikulationen und Performances von Kairo über die USA bis nach Japan (ebenfalls auf Youtube recherchierbar). Es handelt sich hier freilich weiterhin nur um ein Beispiel, allerdings steht dieses exemplarische doch noch für etwas mehr.

Denn interessant ist auch der Inhalt dieses Liedes – es geht um die Frühphase bürgerlich-demokratischer Revolutionen, in denen die vollendete Durchsetzung des modernen politischen Imaginären, der Identität gebenden Logik politischer Kollektivität, die wir heute ganz natürlich „verstehen“, ihren Anfang nahm. Hier liegen wichtige Essentials eines gewissen gemeinsamen Nenners politischer Ideologie – Freiheit, Gleichheit, Solidarität – in klassischer und zugleich idealtypisch herauspräparierter Form zu Tage. Es sind nun genau diese Ideale, die ihrer Substanz nach heute überholt erscheinen, gewissermaßen von der Realität nicht nur eingeholt, sondern überholt wurden. In Zeiten der „Postdemokratie“, der zunehmend verselbstständigten und funktional gewordenen politisch-regulatorischen Sphäre, in der sich Inhalte verschiedener politischer Antagonist_innen nur noch nominell unterscheiden, können auch die hohen Ideale, die im Lied besungen werden, ganz unmittelbar als Fiktion, als schöne Illusion ausgewiesen werden. Genauso wie auch die Politik für die immer größere Zahl der (mehr oder weniger reflektiert) „politikverdrossenen“ Menschen kaum mehr als ein Theaterstück ist, sind die alten Ideale, all das, was überhaupt noch Identität zu geben verspricht, ganz unzweideutig reduziert auf eine „Phantasie aus Hollywood“.

Dass sie nie viel mehr als eine Phantasie waren, der ideologische Charakter der politischen Ideale der Moderne schnell deutlich wird, wenn die tatsächlichen historischen Verhältnisse etwas genauer betrachtet werden, tut hier nichts dazu. Denn jedenfalls hat diese Ideologie lange Zeit funktioniert, ja war formativer Bestandteil jeglicher politischen Artikulation. Inhalt und Form haben gewissermaßen korrespondiert und ein legitimatorisches Ganzes konstituiert, das als „Politik“ eine eigenständige Relevanz neben dem Ökonomischen hatte und so nicht nur die ökonomischen Verhältnisse für die Menschen bisweilen gar in den Hintergrund rücken ließ, sondern sie implizit auch stabilisierte. Heute ist dieses Equilibrium, überhaupt jene Matrix sozialer Logik, die gesellschaftliche Synthesis in einem derartig komplexen System wie dem heutigen erst möglich macht, stark gestört. Das heißt nicht, dass die sozialen Formen irrelevant werden würden. Im Gegenteil rufen die Leute weiterhin die alten identitären Ideale an, ja vielleicht sogar noch naiver und gutgläubiger als dies früher der Fall war, wie an dem verlinkten Stück deutlich wird. Allerdings korrespondieren die illusionären identitätsgebenden Momente nicht mehr mit dem sozialen Inhalt, der tatsächlichen Welt der „Realpolitik“ bzw. der zunehmend unverblümten Verwaltung der „Sachzwänge“ politischer Institutionen. Dementsprechend unbestimmt und vage sind auch die Ziele und Wege der neuesten sozialen Bewegungen. Sie kämpfen für etwas, denn das bleibt weiterhin nötig, damit sie überhaupt kämpfen können. Aber was dies wirklich ist, das bleibt zunehmend unklar, kann innerhalb des bestehenden Denkkontinuums gar nicht mehr sinnvoll gefasst werden, ja wird von den Akteur_innen auch nicht einmal mehr systematisch zu reflektieren versucht[1].

In dieser Situation kann vielleicht wirklich von einer neuen Qualität des „pragmatischen Moments“ der Politik gesprochen werden, der zunehmend für sich alleine steht. Eine gewisse Beliebigkeit und die mehr oder minder aufgezwungene Akzeptanz des „Experimentellen“ zeichnen den Status Quo umfassend aus. Es stellt sich allerdings die Frage, wie dieser Status Quo einzuschätzen ist. Denn wenn es stimmt, dass in den bestehenden Verhältnissen kein umfassendes Herauskommen aus der politischen Form und den ihr innewohnenden identitären Momenten möglich ist, dann markiert dieses neue Pragmatische zumindest teilweise einen Mangel, eine Schwierigkeit, die auch emanzipatorische Projekte trifft, welche sich gegen die andere, strukturell verstetigte und systemerhaltende Seite des Politischen wendet. Kurzum gesagt: ohne gemeinsamer Ideale, ohne einer Vision und einer irgendwie universalisierbaren Vorstellung dessen, wohin sich Veränderung wenden soll, wird nicht nur die soziale Kohäsion von sozialen Bewegungen (weiterhin) schwach und kurzweilig bleiben. Auch werden zunehmend „substanzieller“ sich gerierende Konflikte, wie sie sich etwa im arabischen Frühling artikuliert haben, immer notwendigerweise „substanzlose“ politische Ergebnisse zeitigen, ja zu einem neuen Zustand der Anomie führen, der die Krise des Politischen völlig unverblümbt zum Ausdruck bringt. Diese Art von „Notstands-Pragmatismus“ kann bestenfalls als temporäres Ziel einer emanzipatorischen Bewegung herhalten, ist langfristig aber sicherlich weder die Umsetzung einer kategorialen Veränderung, noch den bestehenden politisch-regulierten Verhältnissen vorzuziehen. Denn selbst wenn letztere inzwischen hochgradig von innen heraus „verfault“ sind, sich selbst bereits in einer Art und Weise aushöhlen, die sie ähnlich fiktiv werden lässt, wie es ein politischer Bezug ist, der sich auf kulturindustrielles Produkt stützt, halten sie zumindest das Moment der Souveränität noch schlecht oder recht aufrecht. Und diese Souveränität gewährleistet eine gewisse Sicherheit, die heute und für die real existierende, fragmentierte und marginalisierte emanzipatorische Bewegung insofern notwendig erscheint, als sie den „Freiraum“ für bewusste und zielgerichtete Konstitutionsprozesse besser ermöglicht als jener Zustand eines anomischen Pragmatismus.

Gegenüber beiden, der systemerhaltenden und der reduktionistischen systemtransformierenden, Seiten ist letztlich darauf zu pochen, dass die politische Form selbst zu überwinden ist. Dass umgekehrt ein versöhntes soziales Ganzes möglich ist, dass weitgehend ohne grobe Antagonismen auskommt und eine Art von universeller Gemeinsamkeit konstituiert, die Partikularität nicht ausschließt, sondern integriert. Diese utopische Perspektive ist zentral für Transformation im Hier und Jetzt. Auch in einer solchen werden wir sicherlich nicht ohne Struktur auskommen, nicht per se rein experimentell vorgehen können. Allerdings wir es auch kein vorgefertigtes „Korsett“ sozialer Formen geben, die intransparent und verselbstständigt jeglicher (politischer) Handlung vorausgehen. Die Schwierigkeit bleibt schließlich, wie wir dorthin nicht kommen, ohne auf das Bestehende aufzubauen, in dem wir uns weiterhin notwendig befinden. Es gibt bekanntlich kein „Außen“, selbst dann, wenn das „Innen“, sich aus sich selbst heraus auflöst. Wie also die „people“, die wir – trotz aller Fiktion – singen hören wollen, aussehen könnten, dass ist die wirklich knifflige Frage. Zur Frage steht allerdings nicht, dass es sie braucht – denn das setzte ich heute mehr denn je voraus.

 

 



[1] Zumindest bei jenen Teilen, die nicht in radikalisierter Weise einen anti-modernistischen Kampf gegen die westlich-aufklärerischen Ideale des politischen Imaginären zu führen glauben, wie etwa die sogenannten „Islamist_innen“. Deren regressiver Reflex gegen all das, was zunehmend als globalisiere Realität für die gesamte Welt unumgänglich wird, ist natürlich auch nichts als eine negative Spiegelung der modernen Formen, ja im Gegenteil wurde jener Reflex in seiner „fundamentalistischen“ Ausgestaltung einer bewussten Rückwärtswendung erst durch die schon etablierte Durchsetzung jener Formen überhaupt erst möglich.