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Nieder mit der Realität! Plädoyer für eine empirische Politikforschung

Immer noch zeigt sich im Studium der Politikwissenschaft eine große Gleichgültigkeit gegenüber den Voraussetzungen des wissenschaftlichen Forschens. Methoden werden auswendig gelernt und dann so gut es eben geht in eine Arbeit zwischen theoretischen und praktischen Teil gezwängt. Was heute zur Glaubensfrage hochgespielt wird – qualitative oder quantitative Methoden – stellte sich für die Politikwissenschaft lange gar nicht, da sie sich nicht als empirisch arbeitende Disziplin verstand. Politikwissenschaft war philosophische Reflexion über Politikfragen oder rechtswissenschaftliche Staatslehre – „bewährte hermeneutischgeisteswissenschaftliche Forschung, die schriftliche Primär- und Sekundärquellen aller Art anhand von persönlichem Hintergrundwissen auswertet.“ (Flick et. al. 1995: 54)

Zwischen der Front positivistischquantitativer Forschung gegen geistes- und rechtswissenschaftliche Hermeneutik war für qualitative Ansätze wenig Platz. Aber trotz der gewachsenen Akzeptanz für qualitative Ansätze heute, wird ihr kritisches Potential bestenfalls hingenommen, anstatt sich über ihren Gebrauch Gedanken zu machen. Woran aber die Politik-Forschung (immer noch!) ganz grundsätzlich krankt, sind zwei fundamentale Irrtümer. Der eine Irrtum liegt darin, anzunehmen, dass es eine widerspruchsfreie und im Grunde unveränderbare Realität gäbe. Der zweite, dass diese Realität erkennbar und analysierbar sei. Das Betreiben der Forschung besteht somit darin, Hypothesen mithilfe aller Arten von Methoden an einer – für wahr und konsistent angenommenen – Wirklichkeit zu prüfen. Ein solches Vorgehen befindet sich, vom heutigen Stand der Philosophie aus gesehen, in einer vergangenen Epoche. Was einer solchen These vorangeht, ist die von Kant aufgeworfene Differenz zwischen der Erfahrung der Dinge und den Dingen an sich. Wie mit dieser Differenz umgehen? Wenn die zu erkennende Wirklichkeit immer nur eine Wirklichkeit für uns sein kann, welchen Sinn hat es dann noch, Wissenschaft zu betreiben?

Nietzsche ist womöglich der erste, der dafür plädiert, diese Differenz einfach auf sich beruhen zu lassen. Im 16. Aphorismus von Menschliches, Allzumenschliches – „Erscheinung und Ding an sich“ – gibt Nietzsche einige Reaktionsweisen auf dieses Dilemma. Sich auf eine „schauerlich geheimnisvolle Weise zum Aufgeben unseres Intellects“ [sic] (Nietzsche 1999: 37) gedrängt zu fühlen, sich in das Unerkennbare zu stürzen und selbst wesenhaft zu werden – der dionysische Rausch – ist die eine Option. Eine andere wäre, „anstatt den Intellect als Schuldigen anzuklagen, das Wesen der Dinge als Ursache dieses thatsächlichen, sehr unheimlichen Weltcharakters anzuschuldigen“ [sic] (ebd.). Die Reaktion, für die Nietzsche nun plädiert (nicht dass er die anderen Optionen nicht ausprobiert hätte), ist sich mit der Welt als Resultat aus einer Menge an Irrtümern und Phantasien abzufinden. „Von dieser Welt der Vorstellung vermag uns die strenge Wissenschaft thatsächlich nur in geringem Maasse zu lösen – wie es auch gar nicht zu wünschen ist –, insofern sie die Gewalt uralter Gewohnheiten der Empfindung nicht wesentlich zu brechen vermag: aber sie kann die Geschichte der Entstehung jener Welt als Vorstellung ganz allmählich und schrittweise aufhellen – und uns wenigstens für Augenblicke über den ganzen Vorgang hinausheben. Vielleicht erkennen wir dann, dass das Ding an sich eines homerischen Gelächters werth ist: dass es so viel, ja Alles schien und eigentlich leer, nämlich bedeutungsleer ist.“ [sic] (ebd.)

Die Frage nach den Dingen-an-sich auf sich beruhen zu lassen, bedeutet, nun die Unbekümmertheit gefunden zu haben, die es braucht, um zu analysieren. Erst die Verabschiedung von jeder metaphysischen Norm und allen Unveränderlichkeiten ermöglicht es, die Dinge und die wissenschaftlichen Daten zu drehen und zu wenden. Was dabei zum Vorschein kommt, sind nicht ihre Ursprünge und Notwendigkeiten, sondern die Zufälligkeit und die kleinen Unstimmigkeiten, Brüche und Risse und alles andere als Unveränderbarkeit. In eben diesem Sinne verstehe ich auch Adornos Begriff von Deutung als die Aufgabe von Philosophie: dabei geht es nicht um die Interpretation, das Aufdecken, die Enthüllung eines verborgenen Sinns. Vielmehr ähnelt philosophische Arbeit dem Rätsellösen. Insofern, als Rätsellösen bedeutet, dass die Elemente des Rätsels experimentell in Beziehung gebracht werden – nicht um eine wahre Bedeutung oder die Lösung des Rätsels, zu erfragen, sondern um erkennen zu müssen, dass das Rätsel sich selbst aufhebt und die Frage verschwindet.

Adorno gibt als Beispiel die Frage um die Warenform: Die Analyse von Marx kann uns den Produktionsprozess erklären und Wert und Tauschwert – was dabei aber zum Vorschein käme, ist, dass es hier um gesellschaftlich und geschichtlich gewachsene Prozesse geht. Die Frage „Was ist die Warenform-an-sich?“ zeigt sich als vollkommen gegenstandslos. Eine solche Wissenschaft ist materialistisch. Sie geht empirisch von den Dingen aus und leitet daraus Theorie ab. Aber sie geht von den Dingen als gewachsene und gewordene aus. Und auch wenn es – folgen wir dem Nihilisten Nietzsche – keinen Sinn hat, den Ursprung, das Ding-an-sich, zu suchen, so ist es doch möglich, die Herrschafts- und Machtstrukturen zu analysieren, die dazu geführt haben, dass sie so und nicht anders geworden sind. Erkenntnis ist somit immer zugleich auch Kritik. „Die Deutung der vorgefundenen Wirklichkeit und ihre Aufhebung sind aufeinander bezogen.“ (Adorno 1990: 338)

Empirische Forschung nun muss eben das leisten können: Die empirisch vorfindbare Welt zu analysieren, bedeutet gleichzeitig, zu zeigen, wie willkürlich sie ist. Und quantitative Forschung eignet sich dazu ebenso gut wie qualitative. Über die eigenen Voraussetzungen reflektieren, heißt für mich also genau das: Die Theorien an der empirischen Wirklichkeit prüfen, die aber leider so widersprüchlich ist, dass es schwer (oder sogar unmöglich?) scheint, etwas konkretes „Wissenschaftliches“ in der Hand zu haben. Das führt m.E. aber nicht zu einer relativistischen Perspektive! Vielmehr geht es darum, die Widersprüche ernst zu  nehmen und sich zu fragen, warum und woher sie auftauchen.

Umfragen etwa sind ein gutes Beispiel, bei dem sich die Frage stellt, wie glaubhaft Antworten auf einen standardisierten Fragebogen sind. Klingen doch Antworten in einem persönlichen Gespräch oder einem qualitativen Interview oftmals ganz anders.  Abgesehen davon, wie Fragen gestellt werden, gehen standardisierte Fragebögen davon aus, dass die Antwort so stimmt, wie sie gesagt wird, dass bestimmte Sätze in Kategorien eingeteilt werden können. Die Antwortenden sind in der Rolle der Passiven. Und aus dieser Rolle der Passiven, der Regierten, kommen auch die Antworten. Oder die Wahlentscheidung bei demokratischen Wahlen. Hinter der Art, den Fragebogen zu erstellen, zeigt sich eine bestimmte Theorie über die Realität der Welt, der Kategorien und der Menschen.

Man kann sich über die Rolle der Politikwissenschaft streiten. Wenn sie aber eine andere sein soll, als die von Politikberatung oder Forschung am Markt der Wählerströme, muss sie sich über die Voraussetzungen ihres Wissens im Klaren sein. Wer Otto/ Frieda NormalverbraucherIn leid ist, sollte an die Abschaffung der Standardnormalverteilung denken. Dass Menschen in sozialwissenschaftlichen Fragebögen und Nationalstaaten in der Internationalen Politik als konsistente AkteurInnen behandelt werden, ist auch eher eine Notlösung. Empirische Daten, mit all ihren Ungereimtheiten, sollten ernst genommen werden. Das heißt, es sollte spielerischer mit ihnen umgegangen werden.

 

Literatur
Nietzsche, Friedrich (1999): Menschliches, Allzumenschliches. Kritische Studienausgabe Bd. 2, München
Adorno, Theodor (1990): Die Aktualität der Philosophie. Gesammelte Schriften Bd. 1, Philosophische Frühschriften, Frankfurt/M.
Flick, Uwe et. al. (Hg.) (1995): Handbuch Qualitative Sozialforschung, Grundlagen, Konzepte, Methoden und Anwendungen. Weinheim

 

Autorin: Therese Fuchs

Erschienen in Politix (29/2011)