Am 17. September 2011 versammelten sich einige hundert Menschen im kleinen Zuccotti Park in New York City unter einem verwegenen Motto: Occupy Wall Street. Der Protest, der von Bewegungen in Spanien und Nordafrika inspiriert wurde, breitete sich rasch über die gesamten Vereinigten Staaten aus. In allen größeren Städten wie Los Angeles, Chicago und Washington, aber auch in vielen kleineren Orten, entstanden Occupy-Camps. Im Laufe des Herbstes wurden die Besetzungen allerdings vor zunehmende Probleme gestellt und verloren in der Folge an Zulauf.1 Die Besetzungscamps, so auch jenes im New Yorker Zuccotti Park, wurden schließlich im November 2011 in einer großangelegten Polizeiaktion geräumt oder lösten sich selbstständig auf.
Seitdem ist es ruhig geworden um Occupy Wall Street. Zwei Jahre nach dem Beginn der Besetzungen ist daher ein guter Zeitpunkt um die Frage zu stellen: Was bleibt von Occupy Wall Street?
Bewegung und Alltagsinitiativen
Wie Sebastian Dörfler in der Juni-Ausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik überzeugend dargelegt hat, sind es insbesondere die von Occupy ausgehenden Initiativen im Reproduktionsbereich, die nach dem Ende der Besetzungen die Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben.2 So unter anderem das Schuldenstreikprojekt Rolling Jubilee oder die Katastrophenhilfe von Occupy Sandy. Diese Entwicklung darf allerdings nicht als Abkehr vom Politischen und Hinwendung an lediglich praktische Alltagsprobleme missverstanden werden. Vielmehr unterstreicht sie einen Anspruch, den Occupy von Beginn an zu verkörpern versuchte: die angestrebten Veränderungen in der Form und den Strukturen der Bewegung bereits vorwegzunehmen und dadurch schlussendlich alle gesellschaftlichen Beziehungen zu umfassen und zu verändern. Den Kernpunkt bildet dabei die Tatsache, dass dieser Anspruch nicht auf dem Reißbrett oder durch das Verfassen glühender Manifeste umgesetzt wurde, sondern mittels praktischer Versuche. Den Prinzipien von Fallibilismus, Experimentalismus und Deliberation verpflichtet, gelang es Occupy in seinen besten Momenten, den alten Widerspruch von Theorie und Praxis in den Griff zu bekommen und praktisch aufzulösen. Es ist daher kein Zufall, dass mehrere Autoren auf die Verwandtschaft der Occupy-Bewegung mit dem amerikanischen Pragmatismus hingewiesen haben.3
Die Alltagsinitiativen die aus den Besetzungen hervorgegangen sind, gehen damit auch über den reinen Reproduktionsbereich hinaus. Sie versuchen vielmehr, die grundlegenden Erfahrungen die während der Besetzungen gemacht wurden, in weitere Gesellschaftsbereiche hinauszutragen. Einheitliche Forderungen oder Ideologien waren der Bewegung daher ebenso fremd wie Anführer oder Sprecherinnen. Diese Eigenschaft, die Occupy von vielen als Schwäche ausgelegt wurde, war vielmehr der Spiegel eines neuen demokratischen Verständnisses, dessen Tragfähigkeit in der Bewegung selbst getestet und erfahren wurde und auch über das Ende der Besetzungen hinaus noch immer nachwirkt.
Erfahrungen von Demokratie
Wenn es um die konkreten Erfahrungen geht die Occupy geschaffen hat, dann ist insbesondere dieses Demokratieverständnis von größter Bedeutung. Demokratie ist dabei zu verstehen als alltägliche Praxis und Erfahrung, getragen von einem Geist des do-it-yourself. Enttäuscht von den bestehenden politischen Institutionen, ging es Occupy von Anfang an darum mit neuen Formen von Institutionen zu experimentieren. Die Vollversammlungen (general assemblies) an den Orten der Besetzungen, die unzähligen Arbeitsgruppen sowie die Entwicklung eigener Kommunikationswege, sei es die Nutzung sozialer Medien oder die beeindruckenden human microphones, sind Zeugen dieses Versuches zu neuen Formen der demokratischen Verständigung und Entscheidungsfindung zu gelangen. Auch wenn der demografische Charakter der Proteste die amerikanische Gesellschaft keineswegs repräsentativ abbildete, sondern vor Ort tendenziell von weißen, besser gebildeten Bevölkerungsschichten getragen wurde,4 so reichten diese neue demokratischen Erfahrungen doch in weite Teile der Bevölkerung hinein.
Es darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden, dass die Besetzungen zu einem Zeitpunkt auftraten, als die Desillusionierung über die Obama-Regierung neue Höhepunkte erreichte. Angesichts des Weiterbestehens des Gefangenenlagers in Guantanamo, der Kompromisse um die Gesundheitsreform und der Verschärfung des Drohnenkrieges wandten sich viele junge und liberale Amerikaner von jenem Präsidenten ab, dessen Wahlkampf sie drei Jahre zuvor noch enthusiastisch unterstützt hatten. Zieht man in Betracht, dass die Gründe für diese Desillusionierung in Obamas zweiter Amtszeit bislang eher zugenommen haben (Überwachungsmaßnahmen, keine Reform der Waffengesetze, schleppende Immigrationsreform) und praktisch alle bestehenden politischen Institutionen der USA betreffen, könnten diese Erfahrungen von eigenen politischen Institutionen, wie sie im Zuge von Occupy eingesetzt und bekannt gemacht wurden, in naher Zukunft also wieder an Bedeutung gewinnen.
Die demokratischen Erfahrungen von Occupy Wall Street bleiben also erhalten und haben sich auf die Suche nach neuen Betätigungsfelder begeben. Entscheidend wird dabei aber sein, inwiefern diese Erfahrungen auf breitere Teile der Bevölkerung übertragen und emanzipatorisch gewendet werden können, damit die Unzufriedenheit mit bestehenden politischen Institutionen nicht im Modus der Tea Party verpufft.
Soziale Ungleichheit und Öffentlichkeit
Wenn es um diese notwendige Überzeugung der Öffentlichkeit geht, ist es besonders die Debatte um die steigende gesellschaftliche Ungleichheit, die die Occupy-Bewegung bisher als Steigbügel in die Mainstream-Medien nutzen konnte. Viel von der Beständigkeit von Occupy wird daher davon abhängen, ob diese Debatte in den USA nachhaltig weitergeführt wird oder bei den ersten Anzeichen eines Wirtschaftsaufschwungs wieder verebbt. Diesbezüglich fällt die aktuelle Bilanz ambivalent aus.
Hatte die Besetzungen in den ersten zwei Monaten zu einer Verfünffachung der medialen Berichterstattung über Einkommensungleichheit geführt5 und damit einen eindeutigen Erfolg verbuchen können, so ist das Thema mittlerweile wieder in den Hintergrund gerückt. So ergab eine Analyse der wichtigsten US-amerikanischen TV-Nachrichtensendungen im April 2013, dass in Beiträgen zur ökonomischen Lage nur in 9% der Fälle ökonomische Ungleichheit zur Sprache kam.6 Gleichzeitig wurde innerhalb der Occupy-Bewegung die Entwicklung von Initiativen wie Occupy Sandy als Abkehr von der ursprünglichen Kernbotschaft, also der Kritik sozialer Ungleichheit und des Finanzkapitalismus, beklagt.
Die große Unbekannte in diesem Zusammenhang bleibt dabei weiterhin die US-amerikansiche Bevölkerung. Denn inwiefern sich diese überhaupt für die stark gestiegene ökonomische Ungleichheit interessiert und daraus ein stärkeres Mandat für Umverteilungspolitik ableitet, bleibt weiterhin Gegenstand hitziger akademischer Debatten.7 In diesem Zusammenhang scheint es nicht die schlechteste Strategie von Occupy zu sein, nun verstärkt dorthin zu gehen, wo die Menschen in ihrem Alltag unmittelbar mit den Auswirkungen gesellschaftlicher Ungleichheit konfrontiert sind: bei ihren Schulden, ihrer Wohnsituation, der Gewalt auf den Straßen und dem Justizsystem. Ob Occupy es dabei schafft, eine substantielle Verbindung zur allgemeinen Kritik gesellschaftlicher Ungleichheit weiterhin aufrechtzuerhalten, oder die Einzelinitiativen diese aus den Augen verlieren, bleibt die große Herausforderung vor der die Bewegung aktuell steht.
Zukunftsperspektiven
Es wäre ein Fehler den Erfolg von Occupy lediglich anhand konkreter politischer Erfolge zu messen. Legt man diesen eingeschränkten Maßstab an, so würde die Bilanz von Occupy in der Tat bescheiden ausfallen. Begreift man Occupy jedoch als eine Bewegung für „wirkliche Demokratie“,8 die die Umgestaltung der sozialen Verhältnisse auch experimentell vorzuleben versucht, so ist es um ihre Nachhaltigkeit besser bestellt. Zum Einen leben die Ideen und Strukturen von Occupy zumindest teilweise in zahlreichen Einzelinitiativen wie Rolling Jubilee oder Occupy Sandy weiter. Andererseits sind die Erfahrungen, die im Zuge der Bewegung in den gesamten Vereinigten Staaten gemacht wurden, weiter präsent und werden in Anbetracht der politischen Vertrauenskrise weiterhin ein wichtiger Bezugspunkt bleiben. Und auch wenn die Debatte über soziale und ökonomische Ungleichheit spätestens seit den Präsidentschaftswahlen 2012 wieder etwas eingeschlafen ist, so gibt es für die Zukunft zahlreiche weitere Betätigungsfelder in die aus Occupy-Perspektive interveniert werden kann. Ein prominentes Beispiel ist dabei die Diskussion um die rassistische Schlagseite des US-amerikanischen Justizsystems, wie sie z.B. im Stop-and-Frisk Programm der New Yorker Polizei exekutiert wird.9 Occupy war von Beginn an an den Protesten gegen dieses Programm beteiligt und hat sich über Initiativen wie Occupy the NRA auch in die Debatte um strengere Waffengesetze eingeschaltet.
Man mag nun einwenden, dass sich Occupy mittlerweile zu einem reinen Franchise-Unternehmen gewandelt hat, dass den unterschiedlichsten Proteste lediglich ein bekanntes Label bietet. Wie die hier gezogene Bilanz aber zeigt, wäre dieser Schluss zu vorschnell. Durch seine dezentrale Organisierung und do-it-yourself Mentalität, war die Occupy-Bewegung von Anfang an darauf ausgelegt, Experimentierräume zu schaffen und in unterschiedlichste Gesellschaftsfelder zu diffundieren. Zwei Jahre nach dem September 2011 gilt daher: Das Potential und die Erfahrungen von Occupy bleiben in den USA bestehen. Ob und wann sie aber wieder an die Oberfläche dringen bleibt vorerst hinter dem Schleier sozialer Kontingenz verborgen.
1 Zu dem ständigen Druck von staatlicher Seite, der im teils äußerst brutalen Vorgehen der Polizei seinen Höhepunkt fand, kamen interne Probleme der Camps selbst. So berichtet Todd Gitlin, Professor für Journalismus an der Columbia University, auch von der Erleichterung die nach dem Ende der Besetzungen vorhanden war. Vgl. Todd Gitlin, Occupy Nation. The Roots, the Spirit, and the Promise of Occupy Wall Street, New York 2012, S. 92.
2 Sebastian Dörfler, Occupy: Von den Plätzen in den Alltag, in: „Blätter für deutsche und internationale Politik“ 6/2013, S.13-16.
3 Vgl. Michael C. Dorf, Could the Occupy Movement Become the Realization of Democratic Experimentalism’s Aspiration for Pragmatic Politics?, www.ssrn.com und Albert R. Spencer und Tyler G. Olson, Occupy Pragmatism: A Reconstruction of America’s Political Economy, www.webpages.uidaho.edu.
4 Der zuverlässigsten Studie zufolge waren etwa zwei Drittel der in New York City Involvierten weiß (white, non-Hispanic) während über drei Viertel einen College-Abschluss besaßen. Vgl. Ruth Milkman u.a., Changing the Subject: A Bottom-Up Account of Occupy Wall Street in New York City, New York 2012.
5 Dylan Byers, Occupy Wall Street is Winning, http://www.politico.com, 11.11.2011.
6 Albert Kleine, Media Push Economic Inequality To The Backseat, www.mediamatters.org, 14.5.2013.
7 Vgl. für aktuelle Beispiele Ilyana Kuziemko und Stefanie Stantcheva, Our Feelings About Inequality: It’s Complicated, www.nyt.com, 21.4.2013 sowie Scott Winship, How Much Do Americans Care About Income Inequality?, www.brookings.edu, 30.4.2013.
8 Michael Hardt und Antonio Negri, The Fight for ‘Real Democracy’ at the Heart of Occupy Wall Street, www.foreignaffairs.com, 11.10.2011.
9 Beim stop-question-and-frisk Programm handelt es sich um eine Initiative des New York City Police Departments im Zuge dessen 532 911 Personen allein im Jahr 2012 angehalten wurden, 55% davon Afroamerikaner und 32% Latinos. Vgl. New York Civil Liberties Union, Stop-and-Frisk Data, www.nyclu.org.