Alle Jahre wieder – der WKR-Ball und seine Rezeption in den Medien

Die Demonstrationen gegen den WKR-Ball (nun zynisch „Akademikerball“) sind inzwischen zu einem Fixpunkt nicht nur in der linken und antifaschistischen Szene geworden, sondern haben endgültig auch die Öffentlichkeit erreicht. Zahlreiche große Zeitungen nahmen den Ball und die Demonstrationen gegen ihn ihre Headlines auf und widmeten ihm mehrere Seiten und auch das mediale Echo im Ausland zeugt vom gewachsenen „öffentlichen Interesse“. Viele mögen dies grundsätzlich als gutes Zeichen betrachten. Es werden allerdings im Zuge dieses „Öffentlich-Werdens“ zahlreiche Ambivalenzen deutlich, die letztlich nicht nur von kritischem Interesse sind, sondern wohl auch für die Akteur_innen kommender Protest-Events (zunehmende) Bedeutung haben werden.

Die zentrale Frage ist – was wird hier wie öffentlich ausgetragen, wer profitiert davon und auf welche Weise wirkt der diskursiv ausgetragene Konflikt auf die Organisation von Demo (und Ball) zurück. Denn naheliegend ist, dass sich zumindest die Strategien der Gegner_innen des rechten Balls auch an diese Begebenheiten anpassen werden müssen.

Deutlich wird mit der stärkeren Präsenz in den Medien ein gewisser logischer, quasi Sachzwängen folgender Argumentationszusammenhang, der in den Medien selbst nie beleuchtet wird, allerdings auch in den Positionierungen zum „medialen Gefecht“ (etwa im Web 2.0 und Forumsbeiträgen) selten durchschaut wird. Schlagwortartig ließe sich dies anhand folgender medialer Anker festmachen: „Antifaschismus“, „Gewalt“, „öffentliches Interesse“, „politische Positionierung“.

Eigentlich sollte angenommen werden, dass es bei den Protesten primär um Antifaschismus geht. Nicht zuletzt die aktive Beteiligung von Holocaust-Überlenden bei den diesjährigen Protesten hätte gerade diesen thematischen Schwerpunkt in den Vordergrund rücken sollen. Es gibt allerdings in Österreich keine namhafte, langjährig öffentlich verankerte und differenziert geführte antifaschistische Tradition. Anders als in Deutschland, wo hier zumindest auf rudimentäre Grundsätze gebaut werden kann, wurde in Österreich als „erstem Opfer“ des NS der Antifaschismus  als lästige Pflicht empfunden, die mehr oder minder doch erfüllt werden muss. Selbst im ehemals „sozialistischen“ Lager ist das weitestgehend der Fall (gewesen), auch wenn hier zumindest ein politischer Minimalkonsens besteht (der sicherlich von zahlreichen „Pragmatiker_innen“ verdammt wird), dass mit gewissen rechten Kräften keine politischen Allianzen eingegangen werden. Wie reduziert der Antifaschismus der SPÖ ist, wird unmittelbar deutlich, wenn die weitgehend ausbleibende klare Positionierung zum WKR-Ball ins Auge gefasst wird, die zwischen den Extrempolen eines abscheulich-neutralen staatsmännischen Zuggeständnisses an die „demokratische Rechtmäßigkeit“ des Balls durch den SPÖ-Bundeskanzler und den doch deutlichen Protesten der Parteijugend oszilliert. Der bürgerliche Mainstream des Landes hat aber über Lippenbekenntnisse und Bezüge auf „längst Überholtes“ hinaus bereits kaum etwas mit Antifaschismus am Hut. Antifaschismus ist nichts, das mit heutigen gesellschaftlichen Strukturen in Verbindung betrachtet wird, sondern bestenfalls Teil einer laufen “Erinnerungskultur”. Es verwundert also letztlich nicht, dass dieses Thema in der öffentlichen Debatte schnell in den Hintergrund rückte und nie wirklich differenziert verhandelt wurde: Keine Analyse was Antifaschismus heute und im Kontext eines rechten Events bedeuten kann oder soll, keine umfassende historische Kontextualisierung rechter Kontinuitäten und keinerlei positive Bezugnahme auf antifaschistische Organisationsformen. Dies festzustellen sollte alleine Grund genug für Ekel und Wut sein. Es erklärt allerdings gerade nicht, wie und warum der Event trotzdem so stark in den Medien bzw. der öffentlichen Debatte präsent sein konnte.

Es waren – leider und wie so oft – nicht die wirklichen Inhalte oder auf Basis differenzierter Analysen geführte Debatten, die das mediale Aufsehen erregten, sondern eine Mischung aus parteipolitischem Antagonismus (bzw. der dazugehörigen Rhetorik) und medialer Autoreferenz. Das Thema „Gewalt“ war hierfür der zentrale Katalysator. Bereits vor den Protesten, noch mehr jedoch nach ihnen ging es primär um die Einschätzung der politisch-diskursiven Effekte. Was macht dieses „Event“ mit der FPÖ, den Grünen, wem „nützt es“, wer kann sich profilieren – hier hatte durchwegs die FPÖ die Nase vorne, obwohl es scheinbar ursprünglich eine breite Sympathie für einen gewissen Kern der Anliegen der Ball-Gegner_innen gabt. Problematisch ist m.E. bereits, dass die Debatte sich nur noch um diese Fragen gedreht hat.

Bleiben wir allerdings kurz bei diesem „hegemonialen Kräftespiel“, so ist festzustellen, dass die Ergebnisse zumindest tendenziell schon vorgegeben waren bzw. durch die Rahmenbedingungen des politischen Klimas, in dem sie stattfanden, abgesteckt wurden. Gewissermaßen hatte hier die FPÖ von vorneherein die besseren Karten, da die politische Defensive auf Basis dieses Klimas mehr und letztlich stärkere diskursive Optionen bot, als es beim Angrifft durch „die Linken“ der Fall war – zumindest insofern letztere kaum Versuche starteten, den vorgegebenen Rahmen zu transzendieren. Diese Konstellation ist einerseits in einer allgemeinen (oft ins reaktionäre tendierenden) „Priorisierung politischen Passivität“ zu begründen: Generell wird progressiven und transformativen Kräften die Bringschuld untergeschoben, nicht jenen, die Altes verteidigen wollen. Die FPÖ schafft es in diesem konservativen Klima sehr gut, die Rolle der illegitim Angegriffenen zu übernehmen und sich als gemäßigte Bewahrerin eines hohlen „demokratischen Konsenses“ zu gerieren. Obwohl ihr das viele nicht abnehmen, scheint es doch kein ernsthaften politischen Gegenmittel zu geben. Ich denke dies hat mit einer Mischung aus Schockstarre und Unbeholfenheit hinsichtlich der eigenen Inhalte zu tun, allerdings auch, mit einem problematischen “Konsens”, den sich linke Kräfte all zu einfach aufdrängen lassen. Denn paradoxerweise war sprangen so gut wie alle relevanten linken Akteur_innen auf diesen Dampfer auf, auch das Empfinden derjenigen, die gegen die Rechten ankämpften bzw. eigentlich grundlegend Sympathie mit Protesten gegen den Ball hatten, scheint irgendwie zumindest argumentativ auf die Position der FPÖ festgefahren zu sein. Die Reaktion bei fast allen der im öffentlichen Diskurs etablierten Linken war konsequenterweise nicht mehr eine proaktive, sondern eine reaktive bis selbstkritische. Damit – und nicht mit wirklichen „Inhalten“ des öffentlich verhandelten Antagonismus – ist allerdings der Kampf bereits verloren. Denn es geht in der diskursiven Auseinandersetzung in keiner Weise um die Inhalte, sondern rein um Macht und Strategie. Analogien zu militärischen Kämpfen, wie sie etwa Antonio Gramsci machte, sind in diesem Hegemonialkampf also durchaus probat. Die Frage ist gerade in unseren „postdemokratischen Zeiten“ in der Regel nicht: wer hat Argumente, wer kann wirklich Substantielles vorweisen, bezieht sich auf “wirkliche Verhältnisse”. Die Frage ist vielmehr: wer schafft den diskursiven Ausbruch aus dem eingefahrenen öffentlich ausgetragenen Stellungskrieg und bekommt so die Oberhand in der öffentlichen, medial vermittelten, Debatte. Denn dieser punktuelle „Gewinn“ ist es letztlich, der als einziges „hängen bleibt“. Es geht tatsächlich gar nicht um die wirkliche Sache selbst – was gerade dann, wenn jene das Erbe des NS ist, sicherlich viele nicht kalt lassen wird. Trotzdem: so absurd diese Logik erscheinen mag, gibt es kein völliges Herumkommen um sie – auch nicht für linke Akteur_innen, die dies bedauern mögen bzw. eine Dimension abseits jenes repräsentativ-politischen Kalküls für wichtig erachten.

Dennoch sollten progressive Kräfte sich nicht einfach auf diese Dimension des (diskursiven) Machtkampfes ohne Inhalt beschränken lassen, ja ihn zumindest nur widerwillig bzw. mit Verachtung betreiben. Denn nicht nur ist sonst der Weg zum Faymann oder zur Glawischnig schon geebnet, auch werden die Chancen und Grenzen jenes Hegemonie-Kampfes (oft) falsch eingeschätzt. Wie gesagt ist diesbezüglich das passiv-reaktionäre Klima, das auch der Position der Mehrheitsgesellschaft entspricht, ein primäres Problem. Es gibt hier einfach vielmehr Einschränkungen für die eine, als die andere Seite – auch und gerade wenn sich Linke als “die Guten” und “Progressiven” fühlen können. Zwar lassen sich die Grenzen des hegemonialen Feldes verschieben, aber dies dauert lange und hat mehr oder minder stets auch die „formgebundene“ Grenze, welche durch die breiteren gesellschaftlichen Rahmenbedingungen vorgegeben wird. Gemäß diesen ist der politische Impetus tendenziell immer eher einer der Reproduktion und Stabilisierung der Verhältnisse. Es ist natürlich nötig, hier trotzdem weiter die Mühen der Ebene zu beackern. Ausbrüche aus diesem Teufelskreis sind aber partiell durchaus möglich, wofür jedoch auch innovative und anderweitige linke Handlungspotentiale in Betracht gezogen werden müssen. Im vorliegenden Fall würde ich behaupten, dass gerade das Thema „Gewalt“ hierfür von zentraler Relevanz ist.

Wie wurde auf den Vorwurf der Gewalt von der (in der Öffentlichkeit präsenten) Linken reagiert? Und was war die mediale Funktion des Gewaltdiskurses? Die Reaktion von Seiten fast aller (linker) Sympathisant_innen war eine umfassend defensive. Der „schwarze Block“ wurde für seine „Gewalt“ verdammt, zumindest aber wurde der diskursive Vorteil, der aus dem Gewaltdiskurs für die Rechte erwuchs, als das zentrale Problem moniert, dem eins auch nichts entgegenzusetzen weiß. Zwei Dinge sind an diesem Vorgehen falsch.

Einerseits kann grundlegend eingewandt werden, dass die reaktionäre Invektive der Gewaltanschuldigung politisch in keiner Weise gekontert wurde. Es wurde schlicht die vorherrschende Definition von „Schwarzer Block=Gewalt=schlecht“ übernommen, ohne hier eine differenzierte Perspektive auch nur anzudenken. Denn eigentlich ist es ja hoch problematisch, wie das Thema Gewalt verhandelt wird. Im Zuge der Demonstration kam es primär zu Sachbeschädigungen. Dass die unmittelbare physische Gewalt durchwegs nicht (ursächlich) von den Demonstrant_innen ausging, sondern in einem eskalativen Zirkel maßgeblich von der Polizei verursacht wurde, ist ja sogar in der Debatte zu hören. Die gerade in Österreich bitter notwendige Kritik der Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols in Form von überzogener physischer und psychischer Gewaltausübung durch (selbst meist ins autoritäre oder auch politisch rechte tendierenden) Polizist_innen wird damit bereits sehr früh abgebrochen. Hier lässt der reaktionäre, obrigkeitshörige Konsensus auch bei den Linken grüßen. Noch mehr sollte allerdings hinsichtlich der Sachbeschädigungen, die eigentlich einen Großteil der öffentlichen Empörung über und medialen Resonanz des Gewaltdiskurses ausmacht, eine nicht bloß defensive Position eingenommen werden. Über die Sinnhaftigkeit solcher lässt sich streiten. Aber dass die Zerstörung von Dingen (noch dazu solcher, die kaum unmittelbar einem persönlichen Lebenszusammenhang entspringen) unisono mit der Gewalt gegen Menschen vermengt wird, ja eigentlich die „Gewalt gegen Dinge“ – ein kategoriales Unding – in den Anschuldigungen diskursiv überhandnimmt, sollte mehr als nur befremden. Eigentlich sollte aktiv gegen diese problematische Vermengung selbst vorgegangen werden, das rechte Totschlagargument sollte nicht (selbstkritisch) angenommen, sondern inhaltlich lautstark bestritten werden. Zerstörung von Dingen ist etwas ganz anderes als Gewalt gegen Menschen und die Vermengung beider bietet bereits Potential für eine Kritik jener gesellschaftlichen Ordnung, die Dinge sooft höher bewertet, als Menschen. Eine Ordnung, in der über psychische Gewalt, wie sie etwa in der sozialen Binnenstruktur “Familie” oft vorkommt und strukturelle Gewalt – wie etwa jene des Staates, gegen Menschen ohne Staatsbürger_innenschaft – viel zu wenig explizit gesprochen wird. Dafür aber der Angriff auf Sachgüter als höchster Affront und Störung der “Ordnung” gilt. Der viel beschworene „Schwarze Block“ unterscheidet sich gerade hier zumindest en gros von rechten gewalttätigen Gruppen – er zielt nicht auf menschliches Leben, richtet seine Zerstörungswut nicht gegen sozial wenig privilegierte und/oder als „Andere“ markierte Menschen, sondern richtet sich – zumindest der Intention nach – gegen jene Ordnung, welche die Dinge über die Menschen stellt. Erneut lässt sich natürlich über die Sinnhaftigkeit einzelner Aktionen streiten – für eine generelle Entsolidarisierung, die auf den falschen Gewaltdefinitionsdiskurs affirmativ aufspringt, reicht dies allerdings nicht. Auch wäre jene diskursiv nicht nötig, würde bewusst die Initiative ergriffen und ein Ausweg aus den rechten und konservativen Totschlagargumenten gesucht – dass derartige „kreative“ und proaktive Auswege aus solchen Situationen funktionieren können, beweist nicht zuletzt gerade die politische Rechte immer wieder grandios. Dem spalterischen Ansinnen der Rechten müsste jedenfalls nicht vorauseilend nachgekommen werden.

Es gibt allerdings auch noch eine andere Seite, hinsichtlich derer der Gewaltdiskurs problematisch ist. Denn erneut geht es in ihm eigentlich nicht wirklich um die „Inhalte“, ist die Empörung über die Gewalt scheinheilig bzw. entspricht mehr einer ritualhaften Anbiederung an einen öffentlichen Ordnungsdiskurs, der nicht wirklich substantiell ist. Die tatsächlichen Sachbeschädigungen sind verhältnismäßig gering und werden wohl – gerade angesichts derer, die hiervon betroffen sind – weitgehend von Versicherungen getragen werden. Was vielmehr zählt ist der skandalöse und medial aufgebauschte Effekt, den ein gewisses gewaltförmiges Auftreten bereits erzielt, noch mehr natürlich die stellenweise Konfrontation. Hier sind wir auf der Ebene des (medialen) Spektakels, das sich weitgehend auch selbst reproduziert. In diesem Spektakel haben alle ihre Rolle, können teils auch nicht anders. Am Deutlichsten wir dies bei den Medien selbst: scheinheilig haben sie gegen die „Zensur“ opponiert, berichten nun aber durchgehend negativ über die „Gewalt“. Dabei ist es aber gerade diese „Gewalt“ – bzw. eigentlich der selbstreferentielle und spektakuläre Diskurs über sie – der sie letztlich besonders anzieht. Überspitzt könnte gesagt werden, dass der Protest gegen die Zensur maßgeblich den Zweck hatte, vor Ort sein zu können, um Bilder der suggerierten Gewalt machen zu können. Umgekehrt macht wiederum diese „Gewalt“ selbst maßgeblich das „öffentliche Interesse“ der Veranstaltung aus, auf dessen Basis die Einschränkungen überhaupt erst moniert wurden. Aber auch Demonstrant_innen reproduzieren das Ganze natürlich teilweise mit, da eine martialische Inszenierung – selbst wenn sie teils nur aus Selbstschutz vor Polzeigewalt angenommen wird – diese Bilder befeuert. Die Polizei schließlich kann sich als Vertreter der „Ordnung“ und des Gewaltmonopols, als einzig berechtige Gewaltausübende inszenieren (was gerade als Ausdruck der ultimativen Macht dem autoritären Charakter gewisser Menschen besondere Genugtuung verschafft). Einer weitere Versicherheitlichung der sozialen und politischen Verhältnisse wird damit zugearbeitet. Letztlich spielen hier also alle ihre Rollen und die Spielräume scheinen gering. Wie aus der Immanenz des politischen Antagonismus, so ist auch ein Auskommen aus dem Zirkel des medialen Spektakels tatsächlich schwer möglich. Es gibt sicherlich keinen Königsweg. Bewusst sollten sich linke Akteur_innen aber sein, wie der medial inszenierte „öffentliche Diskus“ funktioniert. Denn durchwegs scheint es so, als ob dieses Bewusstsein bei der anderen Seite klarer vorhanden ist.

Wichtig wird es schlussendlich sein, ob und wie emanzipatorische Kräfte sich abseits von medialem Spektakel und politischen Hegemoniekämpfen formieren. Wie also diese Logiken umfassend durchschaut werden können, um sie zumindest im eigenen Lager nicht mehr zu kultivieren. Darüber hinaus bleibt es trotzdem bzw. gerade auf Basis dieser Orientierung wichtig, Strategien des Bezugs auf diese eigentlich abzulehnenden Orientierungen zu entwickeln. Denn so sehr eine „anti-politische“ und „anti-spektakuläre“ Orientierung für linke Bewegungen – gerade in Zeiten einer umfassenden öffentlichen Krise – der wohl zukunftsträchtigste Weg ist, darf die notwendig immer schon vorgefundene Einbindung in immanente Auseinandersetzungen nicht ignoriert werden. Dies gilt insbesondere für antifaschistische Bestrebungen, die nicht immer nur auf der Straße oder in unmittelbaren sozialen Kontexten situiert sind, sondern letztlich auch in der Öffentlichkeit geführt werden müssen. Denn dort ist die Rechte und Rechtsextreme gerade in Österreich viel zu stark verankert, legitimiert und präsent.

Irony and the Limits of Political Satire

I always thought Jon Stewart’s Daily Show is at its worst when it tries to be serious. The “Rally to Restore Sanity” was probably the . But in the last days a new facet of this devastating seriousness has popped up: the case of Toronto mayor Rob Ford. Drinking, smoking crack and talking dirty the guy is certainly an easy target. And suddenly the Daily Show plays the role of the concerned and reasonable citizen who can’t tolerate such a yahoo in public office ().

It is no secret that Jon Stewart is a prototypical liberal and in itself that’s no big problem. What is problematic is the fact that he takes this position out of the equation far too often. In other terms: he lacks irony. Just as he tried to develop a “neutral” position of “reason” above all the dirty political antagonisms with his “Rally to Restore Sanity” he now takes a similar stance when it comes to Rob Ford. Politics is regarded as a serious business for reasonable, clean, fit (?) and polite experts that work hard on the public behalf. And since this (Stewart’s) position is so obvious and seems so true no need to make fun of it, right?

Wrong. It’s an immensly stupid and simplistic position. Politics becomes a matter of character and attitudes. If politicians would just be sane and sober everything would turn out fine. Granted, it probably wouldn’t do no harm if they were but probably wouldn’t change a lot for the better too.

But the real trouble with this understanding is that it is just another brick in the comfortable platform of “reason” and liberal middle-ground that the Daily Show has come to rest upon. It is a platform that seems to be beyond critique and satire. In the sea of cable chatter, endless gridlock and conservative madness it is the safe island on which the anxious liberal-urban youth begins to live a happy and self-confident life.

With such a behavior political satire begins to undermines its own foundations. Kurt Tucholsky famously answered the question “What may satire do?” with a simple “Everything”. As it turns out the question to this correct answer has been posed wrong. It has to be: “What should satire do?” In other words: Political satire that “” and eventually has the potential to become transformative must show some sense of irony and start to saw off the branch it has been resting on. It just can’t stop at its own beliefs and positions.

This probably asks too much from a mainstream comedy show. But that even such a limited format allows at least for a bigger chunk of self-irony has been proved by Daily Show alumni Stephen Colbert.

Zwei Jahre danach: Was bleibt von Occupy Wall Street?

Am 17. September 2011 versammelten sich einige hundert Menschen im kleinen Zuccotti Park in New York City unter einem verwegenen Motto: Occupy Wall Street. Der Protest, der von Bewegungen in Spanien und Nordafrika inspiriert wurde, breitete sich rasch über die gesamten Vereinigten Staaten aus. In allen größeren Städten wie Los Angeles, Chicago und Washington, aber auch in vielen kleineren Orten, entstanden Occupy-Camps. Im Laufe des Herbstes wurden die Besetzungen allerdings vor zunehmende Probleme gestellt und verloren in der Folge an Zulauf.1 Die Besetzungscamps, so auch jenes im New Yorker Zuccotti Park, wurden schließlich im November 2011 in einer großangelegten Polizeiaktion geräumt oder lösten sich selbstständig auf.

Seitdem ist es ruhig geworden um Occupy Wall Street. Zwei Jahre nach dem Beginn der Besetzungen ist daher ein guter Zeitpunkt um die Frage zu stellen: Was bleibt von Occupy Wall Street?

Bewegung und Alltagsinitiativen

Wie Sebastian Dörfler in der Juni-Ausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik überzeugend dargelegt hat, sind es insbesondere die von Occupy ausgehenden Initiativen im Reproduktionsbereich, die nach dem Ende der Besetzungen die Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben.2 So unter anderem das Schuldenstreikprojekt Rolling Jubilee oder die Katastrophenhilfe von Occupy Sandy. Diese Entwicklung darf allerdings nicht als Abkehr vom Politischen und Hinwendung an lediglich praktische Alltagsprobleme missverstanden werden. Vielmehr unterstreicht sie einen Anspruch, den Occupy von Beginn an zu verkörpern versuchte: die angestrebten Veränderungen in der Form und den Strukturen der Bewegung bereits vorwegzunehmen und dadurch schlussendlich alle gesellschaftlichen Beziehungen zu umfassen und zu verändern. Den Kernpunkt bildet dabei die Tatsache, dass dieser Anspruch nicht auf dem Reißbrett oder durch das Verfassen glühender Manifeste umgesetzt wurde, sondern mittels praktischer Versuche. Den Prinzipien von Fallibilismus, Experimentalismus und Deliberation verpflichtet, gelang es Occupy in seinen besten Momenten, den alten Widerspruch von Theorie und Praxis in den Griff zu bekommen und praktisch aufzulösen. Es ist daher kein Zufall, dass mehrere Autoren auf die Verwandtschaft der Occupy-Bewegung mit dem amerikanischen Pragmatismus hingewiesen haben.3

Die Alltagsinitiativen die aus den Besetzungen hervorgegangen sind, gehen damit auch über den reinen Reproduktionsbereich hinaus. Sie versuchen vielmehr, die grundlegenden Erfahrungen die während der Besetzungen gemacht wurden, in weitere Gesellschaftsbereiche hinauszutragen. Einheitliche Forderungen oder Ideologien waren der Bewegung daher ebenso fremd wie Anführer oder Sprecherinnen. Diese Eigenschaft, die Occupy von vielen als Schwäche ausgelegt wurde, war vielmehr der Spiegel eines neuen demokratischen Verständnisses, dessen Tragfähigkeit in der Bewegung selbst getestet und erfahren wurde und auch über das Ende der Besetzungen hinaus noch immer nachwirkt.

Erfahrungen von Demokratie

Wenn es um die konkreten Erfahrungen geht die Occupy geschaffen hat, dann ist insbesondere dieses Demokratieverständnis von größter Bedeutung. Demokratie ist dabei zu verstehen als alltägliche Praxis und Erfahrung, getragen von einem Geist des do-it-yourself. Enttäuscht von den bestehenden politischen Institutionen, ging es Occupy von Anfang an darum mit neuen Formen von Institutionen zu experimentieren. Die Vollversammlungen (general assemblies) an den Orten der Besetzungen, die unzähligen Arbeitsgruppen sowie die Entwicklung eigener Kommunikationswege, sei es die Nutzung sozialer Medien oder die beeindruckenden human microphones, sind Zeugen dieses Versuches zu neuen Formen der demokratischen Verständigung und Entscheidungsfindung zu gelangen. Auch wenn der demografische Charakter der Proteste die amerikanische Gesellschaft keineswegs repräsentativ abbildete, sondern vor Ort tendenziell von weißen, besser gebildeten Bevölkerungsschichten getragen wurde,4 so reichten diese neue demokratischen Erfahrungen doch in weite Teile der Bevölkerung hinein.

Es darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden, dass die Besetzungen zu einem Zeitpunkt auftraten, als die Desillusionierung über die Obama-Regierung neue Höhepunkte erreichte. Angesichts des Weiterbestehens des Gefangenenlagers in Guantanamo, der Kompromisse um die Gesundheitsreform und der Verschärfung des Drohnenkrieges wandten sich viele junge und liberale Amerikaner von jenem Präsidenten ab, dessen Wahlkampf sie drei Jahre zuvor noch enthusiastisch unterstützt hatten. Zieht man in Betracht, dass die Gründe für diese Desillusionierung in Obamas zweiter Amtszeit bislang eher zugenommen haben (Überwachungsmaßnahmen, keine Reform der Waffengesetze, schleppende Immigrationsreform) und praktisch alle bestehenden politischen Institutionen der USA betreffen, könnten diese Erfahrungen von eigenen politischen Institutionen, wie sie im Zuge von Occupy eingesetzt und bekannt gemacht wurden, in naher Zukunft also wieder an Bedeutung gewinnen.

Die demokratischen Erfahrungen von Occupy Wall Street bleiben also erhalten und haben sich auf die Suche nach neuen Betätigungsfelder begeben. Entscheidend wird dabei aber sein, inwiefern diese Erfahrungen auf breitere Teile der Bevölkerung übertragen und emanzipatorisch gewendet werden können, damit die Unzufriedenheit mit bestehenden politischen Institutionen nicht im Modus der Tea Party verpufft.

Soziale Ungleichheit und Öffentlichkeit

Wenn es um diese notwendige Überzeugung der Öffentlichkeit geht, ist es besonders die Debatte um die steigende gesellschaftliche Ungleichheit, die die Occupy-Bewegung bisher als Steigbügel in die Mainstream-Medien nutzen konnte. Viel von der Beständigkeit von Occupy wird daher davon abhängen, ob diese Debatte in den USA nachhaltig weitergeführt wird oder bei den ersten Anzeichen eines Wirtschaftsaufschwungs wieder verebbt. Diesbezüglich fällt die aktuelle Bilanz ambivalent aus.

Hatte die Besetzungen in den ersten zwei Monaten zu einer Verfünffachung der medialen Berichterstattung über Einkommensungleichheit geführt5 und damit einen eindeutigen Erfolg verbuchen können, so ist das Thema mittlerweile wieder in den Hintergrund gerückt. So ergab eine Analyse der wichtigsten US-amerikanischen TV-Nachrichtensendungen im April 2013, dass in Beiträgen zur ökonomischen Lage nur in 9% der Fälle ökonomische Ungleichheit zur Sprache kam.6 Gleichzeitig wurde innerhalb der Occupy-Bewegung die Entwicklung von Initiativen wie Occupy Sandy als Abkehr von der ursprünglichen Kernbotschaft, also der Kritik sozialer Ungleichheit und des Finanzkapitalismus, beklagt.

Die große Unbekannte in diesem Zusammenhang bleibt dabei weiterhin die US-amerikansiche Bevölkerung. Denn inwiefern sich diese überhaupt für die stark gestiegene ökonomische Ungleichheit interessiert und daraus ein stärkeres Mandat für Umverteilungspolitik ableitet, bleibt weiterhin Gegenstand hitziger akademischer Debatten.7 In diesem Zusammenhang scheint es nicht die schlechteste Strategie von Occupy zu sein, nun verstärkt dorthin zu gehen, wo die Menschen in ihrem Alltag unmittelbar mit den Auswirkungen gesellschaftlicher Ungleichheit konfrontiert sind: bei ihren Schulden, ihrer Wohnsituation, der Gewalt auf den Straßen und dem Justizsystem. Ob Occupy es dabei schafft, eine substantielle Verbindung zur allgemeinen Kritik gesellschaftlicher Ungleichheit weiterhin aufrechtzuerhalten, oder die Einzelinitiativen diese aus den Augen verlieren, bleibt die große Herausforderung vor der die Bewegung aktuell steht.

Zukunftsperspektiven

Es wäre ein Fehler den Erfolg von Occupy lediglich anhand konkreter politischer Erfolge zu messen. Legt man diesen eingeschränkten Maßstab an, so würde die Bilanz von Occupy in der Tat bescheiden ausfallen. Begreift man Occupy jedoch als eine Bewegung für „wirkliche Demokratie“,8 die die Umgestaltung der sozialen Verhältnisse auch experimentell vorzuleben versucht, so ist es um ihre Nachhaltigkeit besser bestellt. Zum Einen leben die Ideen und Strukturen von Occupy zumindest teilweise in zahlreichen Einzelinitiativen wie Rolling Jubilee oder Occupy Sandy weiter. Andererseits sind die Erfahrungen, die im Zuge der Bewegung in den gesamten Vereinigten Staaten gemacht wurden, weiter präsent und werden in Anbetracht der politischen Vertrauenskrise weiterhin ein wichtiger Bezugspunkt bleiben. Und auch wenn die Debatte über soziale und ökonomische Ungleichheit spätestens seit den Präsidentschaftswahlen 2012 wieder etwas eingeschlafen ist, so gibt es für die Zukunft zahlreiche weitere Betätigungsfelder in die aus Occupy-Perspektive interveniert werden kann. Ein prominentes Beispiel ist dabei die Diskussion um die rassistische Schlagseite des US-amerikanischen Justizsystems, wie sie z.B. im Stop-and-Frisk Programm der New Yorker Polizei exekutiert wird.9 Occupy war von Beginn an an den Protesten gegen dieses Programm beteiligt und hat sich über Initiativen wie Occupy the NRA auch in die Debatte um strengere Waffengesetze eingeschaltet.

Man mag nun einwenden, dass sich Occupy mittlerweile zu einem reinen Franchise-Unternehmen gewandelt hat, dass den unterschiedlichsten Proteste lediglich ein bekanntes Label bietet. Wie die hier gezogene Bilanz aber zeigt, wäre dieser Schluss zu vorschnell. Durch seine dezentrale Organisierung und do-it-yourself Mentalität, war die Occupy-Bewegung von Anfang an darauf ausgelegt, Experimentierräume zu schaffen und in unterschiedlichste Gesellschaftsfelder zu diffundieren. Zwei Jahre nach dem September 2011 gilt daher: Das Potential und die Erfahrungen von Occupy bleiben in den USA bestehen. Ob und wann sie aber wieder an die Oberfläche dringen bleibt vorerst hinter dem Schleier sozialer Kontingenz verborgen.

 

1 Zu dem ständigen Druck von staatlicher Seite, der im teils äußerst brutalen Vorgehen der Polizei seinen Höhepunkt fand, kamen interne Probleme der Camps selbst. So berichtet Todd Gitlin, Professor für Journalismus an der Columbia University, auch von der Erleichterung die nach dem Ende der Besetzungen vorhanden war. Vgl. Todd Gitlin, Occupy Nation. The Roots, the Spirit, and the Promise of Occupy Wall Street, New York 2012, S. 92.

2 Sebastian Dörfler, Occupy: Von den Plätzen in den Alltag, in: „Blätter für deutsche und internationale Politik“ 6/2013, S.13-16.

3 Vgl. Michael C. Dorf, Could the Occupy Movement Become the Realization of Democratic Experimentalism’s Aspiration for Pragmatic Politics?, www.ssrn.com und Albert R. Spencer und Tyler G. Olson, Occupy Pragmatism: A Reconstruction of America’s Political Economy, www.webpages.uidaho.edu.

4 Der zuverlässigsten Studie zufolge waren etwa zwei Drittel der in New York City Involvierten weiß (white, non-Hispanic) während über drei Viertel einen College-Abschluss besaßen. Vgl. Ruth Milkman u.a., Changing the Subject: A Bottom-Up Account of Occupy Wall Street in New York City, New York 2012.

5 Dylan Byers, Occupy Wall Street is Winning, http://www.politico.com, 11.11.2011.

6 Albert Kleine, Media Push Economic Inequality To The Backseat, www.mediamatters.org, 14.5.2013.

7 Vgl. für aktuelle Beispiele Ilyana Kuziemko und Stefanie Stantcheva, Our Feelings About Inequality: It’s Complicated, www.nyt.com, 21.4.2013 sowie Scott Winship, How Much Do Americans Care About Income Inequality?, www.brookings.edu, 30.4.2013.

8 Michael Hardt und Antonio Negri, The Fight for ‘Real Democracy’ at the Heart of Occupy Wall Street, www.foreignaffairs.com, 11.10.2011.

9 Beim stop-question-and-frisk Programm handelt es sich um eine Initiative des New York City Police Departments im Zuge dessen 532 911 Personen allein im Jahr 2012 angehalten wurden, 55% davon Afroamerikaner und 32% Latinos. Vgl. New York Civil Liberties Union, Stop-and-Frisk Data, www.nyclu.org.

The Emancipatory Potential of Disasters?

I’m currently reading the book “” by Rebecca Solnit. The main thesis of the author, a journalist and writer based in California is simple but surprising. Contrary to what disaster movies teach us the reaction of people who face disasters and catastrophes is mainly pro-social. To prove this claim Solnit draws on various examples from the San Francisco earthquake of 1906 to such recent events as 9/11 or Hurricane Katrina.

The stories she tells us about the men and women living through these disasters and catastrophe share a common trait of altruism and solidarity. People help each other, rescue and support injured family members but also total strangers, build up basic infrastructure such as soup kitchens and share their left belongings which fellow survivors. In doing so they do not rely on official structures such as police, military or firefighters but are capable to improvise and build their own adhoc structures and institutions.

What’s most interesting about the book then is the fact that it has an explicit political agenda. Put in its most simple form Solnit basically states that Hobbes got it wrong and anarchists (her main example is Kropotkin but interestingly enough pragmatist founding father William James also plays a prominent role – although Solnit doesn’t consider him to be an anarchist) are right. If even under the circumstances of total catastrophe the thin vail of civilization doesn’t break to reveal the underlying mayhem of the state of nature then the “” from England obviously erred.

If that’s the case then maybe anarchists such as David Graeber (who mentions Solnit’s findings in ) are right after all. People are social beings and help and support each other without any need for a government, army or police to interfere.

Ok, so far this sounds just like another silly utopia made up by yet another Berkeley-educated commie? Well, the interesting fact is that this Berkeley-educated commie has science on her side.

Enter EnricoQuarantelli and his colleagues from the . They are among the leading scholars in the field of disaster research (Quarantelli basically founded the field) and their findings support Solnit’s claims.

For Hurricane Katrina they that contrary to the view in the media the behavior people showed was essential pro-social:

“[..] emergent activities in the impacted region showed a different and opposite pattern to those suggested by the imagery employed by the media outlets mentioned above. Throughout this article we argue, and provide data to show, that a great variety of new, nontraditional or emergent behavior surfaced in this catastrophic occasion. Not being able to act in traditional ways, most ofthe citizens and groups in New Orleans as well as the rest of Louisiana rose to the challenge by engaging in primarily new but relevant coping behavior.” (p. 84)

Of course this doesn’t mean that there was no looting or anti-social behavior after all (a fact Solnit of course takes into account too). But the point Solnit and the disaster researchers stress is that this is only a small part of the human reactions, whereas the vast amount of them is fueled by a sense of altruism, solidarity and community.

The political thesis Solnit derives from these scientific findings is bold but it definitively should be considered when we think about a better society.

„Krisen-Mutti“ Merkel: Mediale Metaphorik und ihr wahrer Kern

Oft sind die von den Medien bzw. ihren meist recht oberflächlichen politischen Analyst_innen gezeichneten Bilder nicht viel aussagekräftiger als die in „Newspeak“ verfassten Stellungnahmen, welche die Politiker_innen selbst in die Welt setzen. Manchmal allerdings kann das mediale Echo einen politischer Großereignisse einen gewissen ideologischen Kern tatsächlicher politischer Verhältnisse durchaus in recht brauchbarer Offenheit wiedergeben. Die deutsche Bundestagswahl und dort speziell das „Phänomen Merkel“ sind hier ein gutes Beispiel. In zahlreichen Medien wird der fulminante Sieg Merkels – 40%, noch dazu für eine bürgerliche „Volkspartei“ sind tatsächlich beträchtlich – stark auf die Person der Kanzlerin zurückgeführt, bzw. was sie mit ihrer Partei vermitteln konnte. Die CDU/CSU unter ihrer Führung stünde für Sicherheit und Stabilität und verspräche auch in der Wirtschaftskrise eine stabile Führung. So wenig damit natürlich die „wirkliche“ Person bzw. die Politikerin Merkel gemeint sein kann – auch sie ist nur ein Ausdruck von gesellschaftlichen Verhältnissen, die sie genauso viel oder wenig bestimmt, wie andere Politiker_innen – so richtig ist der Gedanke doch in zweierlei Hinsicht. Einerseits vor dem Hintergrund einer allgemeinen Tendenz des Politischen, die als krisenhaft bezeichnet werden kann: Politik wird heute (wieder) viel weniger durch „Inhalte“, „politische Programme“ und diesbezügliche klare Verortungen der Wähler_innen geprägt, als sie eine mediale Inszenierung ist, in der fiktive Figuren gemalt bzw. beschworen werden. Anders als früher sind diese Figuren oft brüchig und können nicht mehr als kurzfristige Erfolge versprechen, sind beständig zu adaptieren und reinszenieren. Die Figur Merkel schaffte es dabei scheinbar besser als andere, eine gewisse Konstanz zu wahren und allein schon aus dieser Tatsache erwächst ein politischer Mehrwert Andererseits angesichts der spezifischen ökonomischen Krisenregulation, die seit 2008 zu leisten ist. Zweifellos hatte Deutschland hier sowohl in Europa als auch der ganzen Welt einen Startvorteil bzw. sehr günstige Ausgangsbedingungen. Die Angst der Menschen vor einem Abstieg und ein dahingehender „Sicherheitsdiskurs“ sind aber trotzdem bzw. gerade deswegen deutlich zu bemerken. Insbesondere die sogenannte „Mittelschicht“ bzw. all jene, die sich von der diesbezüglichen, im deutschsprachigen Raum sehr ausgeprägten, Ideologie leiten lassen, sind hiervon betroffen. Dabei zählt weniger, wer wirklich noch im soziologischen Sinne einer ausmachbaren „mittleren Schicht“ angehört – die Ideologie ist für alle identitätsgebenden, die sich auch nur annährend in einer sozialen Lage befinden, welche wenigstens noch die Aspiration „zur Mitte“ zu gehören zulässt. Beides, das mittelstandsideologische Bedürfnis nach Sicherheit und die gelungene Bedienung des politischen Imaginären gelang Merkel sicherlich in vieler Hinsicht durch geschickte Taktik und ein äußerst ausgeprägtes Talent im Umgang mit jener Art der kühlen und sachlichen politischen Rationalität, die gerade in Zeiten der Krisenregulierung von so großer Bedeutung ist. Diese „Leistungen“ sind natürlich geschlechtlos und stehen für sich. Angesichts des oben gesagten, der Tatsache dass immer weniger das reale Politikgeschehen als die ideologische Aufladung zählen, erscheint jedoch die Vergeschlechtlichung des „Phänomens Merkel“ durchaus von Relevanz zu sein. Das nun oft beschworene Bild der „Mutterfigur“ ist dabei ernster zu nehmen, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Denn das Mütterliche ist seit jeher Kern nationaler Ideologie,  die Frau figuriert dabei als organisch-völkisches Sinnbild für den „Körper“ der Nation, der jedoch durch symbolisch männlich konnotierte Momente nationaler Ideologie,  den „Vater Staat“, unterworfen wird und so erst seine volle Tragfähigkeit erhält. Dies sublime weibliche Seite des Nationalstaates wird gerade in Zeiten des gefühlten Sicherheitsverlust, der Angst vor dem Abstieg und dem Rattenschwanz psychologischer Reaktionsmuster, die damit einhergehen, zunehmend relevant. Nicht nur im sprichwörtlichen Sinne ist dabei eine versteckte Sehnsucht nach einer „Mutterfigur“ sicherlich mindestens so stark, wie die „männliche“ Seite Merkels, die sich in ihrer „staatsmännischen“ Kompetenz, ja der übermäßigen Repräsentation des Idealtypus „Sachpolitiker“ manifestiert. Gewissermaßen ließe sich sagen, dass es die Personalunion von sowohl männlich als auch weiblich konnotierten Seiten ist, die Merkel als ideologische Figur so stark macht. Dass auch diese Figur eine prekäre ist, ja die Aufladung der Repräsentanzen sich selbst bei dem für Verlässlichkeit und Konstanz stehenden Ideologem einer bürgerlichen Mitte schnell ändern könnte, wird letztlich auch dadurch deutlich, dass Merkel beständig um ihre Anerkennung und ihr Standing kämpfen musste. Als „unweiblich“, „Mannweib“ oder „das Merkel“ geschimpft und verschmäht, wird das sexistische Ressentiment, vor dem auch die oberste Staatenlenkerin nicht gefeit ist, nicht nur zwischen den Zeilen deutlich, es droht auch gerade dann, wenn sie einen Fehler macht bzw. schlicht die Verhältnisse sich für Deutschland ungünstiger entwickeln, über die alte und neue Kanzlerin hereinzubrechen. Die scheinbare Sicherheit könnte also sowohl für Angela Merkel und die CDU/CSU als auch für die deutschen politischen Verhältnisse allzu bald eine trügerische sein.

Defma – eine wichtige und schwierige Debatte

Das Konzept der Definitionsmacht – kurz Defma – von Betroffenen sexualisierter Gewalt hat in linken Subkulturen in den letzten Jahren für einige Furore gesorgt. Zurecht, denn das Thema patriarchaler Gewaltverhältnisse hat sich – trotz teils stärker werdender feministischer Impulse, die hier Veränderung anstreben – nicht nur in der Mainstream-Gesellschaft, sondern auch in alternativen Kreisen bisher immer noch viel zu wenig etabliert, wird nicht oder nicht in seiner vollen Tragweite ernstgenommen.

Defma stellt dabei sicherlich nur einen Schritt zur Veränderung dar, ist aber als unmittelbares, auf der Mikroebene sozialer Verhältnisse situiertes, Instrument besonders wichtig. Das Prinzip ist so einfach wie es eigentlich selbstverständlich sein sollte: wenn Personen, die Betroffene patriarchaler Gewaltverhältnisses sind, eine Deklaration über einen gewalttätigen Vorfall machen, so ist ihnen zu glauben und mit ihrer Einschätzung solidarisch umzugehen. Auch wenn dieser Zweck oft missverstanden wird, es hierdurch zu ungünstigen Anwendungspraxen kommt und die inhaltliche Auseinandersetzung über die Praxisform nicht immer in die richtige Richtung geht, sollte das Prinzip grundsätzlich verteidigt werden bzw. eine kritisch-solidarische Position eingenommen werden. In der Praxis gebietet sich das sowieso, aber auch die Debatte über sie ist von Relevanz, denn nicht zuletzt äußert sich in der Konfliktachse maßgeblich die Relevanz einer pro-feministischen Position, die – trotz aller Widersprüche – die fortdauernde Situation partriarchaler Herrschaft und die damit einhergehende “partikularisierte” Position von Frauen* ernst nimmt.

In der Debatte gibt es nun  regelmäßig zwei Arten von Kritiken:
Die erste ist recht unmittelbar und bringt v.a. lebenspraktische, moralische oder einfach nur situative Bedenken ein, die zeigen sollen, dass Defma entweder “nicht funktioniert” oder “herrschaftsfömig-böse” ist. Diesen Kritiken ist wohl auch nur praktisch, im politischen Handgemenge und der unmittelbaren (mühsamen) Auseinandersetzung beizukommen.

Es gibt allerdings inzwischen auch eine zweite Form von Kritiken, die komplexere inhaltliche Argumente bringt, bzw. einem theoretischen Anspruch zu entsprechen vorgibt. Diesen Einwürfen ist in der Regel auch nur auf dem theoretischen Terrain wirklich beizukommen, bzw. wäre eine solche Auseinandersetzung sicherlich vorteilhaft. Dass es hierzu selten kommt, da zahlreiche Verfechter_innen von Defma sich (verständlicherweise) allzu sehr in einer “Verteidigungshaltung” befinden bzw. sich gar nicht auf abstrakte theoretische Diskussionen einlassen möchten, könnte als Problem betrachtet werden. Selbst dann, wenn es niemanden angeschuldet wird bzw. sogar anerkannt wird, dass es sich teilweise schlicht um eine Themenverfehlung oder Ablenkungsstrategie handelt. Denn theoretische Auseinandersetzung ist etwas anderes als unmittelbar praktische oder auch politische, gehorcht eigenen Regeln und macht den “Wahrheitsbeweis” auf sehr spezifische Weise zu einem zentralen Moment (was gerade bei Defma eine Schwierigkeit darstellt, die aber durchaus produktiv zu überkommen ist).

Umso mehr gilt es, von dritter (bzw. nicht so unmittelbar involvierter) Seite solidarische Positionen einzubringen und vielleicht auch so manche Diskussion aufzunehmen, die andere schon aufgegeben haben. Ein gutes Beispiel hierfür ist ein Beitrag der auf Indymedia gepostet wurde und 7 kritische Thesen zur Definitionsmacht einbringt:  Die Argumentation erscheint auf den ersten Blick komplex zu sein, wird aber durch ein unten angeführtes längeres Kommentar recht gut widerlegt.

Ich möchte diese Debatte hier gerne exemplarisch wiedergeben, deswegen finden sich anbei beide Inputs im Volltext. Dies ist weder der Platz, um dazu Stellung zu beziehen noch halte ich dies hier für nötig – die Beiträge sprechen für sich und bieten hoffentlich einige kritische Denkanstöße.

7 Thesen zur Definitionsmacht

Verfasst von: DefmaKritik. Verfasst am: 01.08.2010 – 20:35. 

Anstoß einer überfälligen Diskussion

Im Folgenden soll thesenhaft kritisiert werden, was in der autonome Szene als ‘Definitionsmacht’ – subkulturell durchgestyled auch als ‘DefMa’ bezeichnet – bekannt ist. Eine Definition des Konzeptes ‘Defma’ soll hier nicht stattfinden, hierzu wurden etliche kleine Textchen veröffentlicht (z.B. “Antisexismus Reloaded“, im Unrast Verlag erschienen, oder von der Gruppe ‘Defma’ aus Österreich).

Wir sind der Meinung, dass die ‘DefMa’ nicht in der Lage ist, mit Vergewaltigungen, sexueller Gewalt und sexuellen Belästigungen/Grenzübertretungen adäquat umzugehen und darüber hinaus oftmals katastrophale Resultate erzeugt, die sich in körperlicher Gewalt, Bedrohungen und sozialer Verfolgung ausdrücken können. Hier soll es aber nicht darum gehen, konkrete Fälle zu diskutieren – dessen sind wir überdrüssig -, vielmehr soll es darum gehen, die ‘DefMa’ inhaltlich zu kritisieren, ihre Widersprüche aufzudecken und somit den Boden für eine am Begriff orientierte Diskussion zu schaffen. Diese Thesen sollen keine Auswege aus der Misere der Unfhäigkeit des Umgangs mit sexueller Gewalt liefern, sondern zunächst nur die Kritik (mit-)formulieren, an der derlei Auswege entwickelt werden könnten.

1. ‘DefMa’ ist logischer Eskapismus

 

‘DefMa’ soll die ultimative Antwort auf die Mannigfaltigkeit von Einzelfällen sein. Die ‘DefMa’ ist somit die Kapitulation vor der Komplexität, der Widersprüchlichkeit des Phänomens, vor der Individualität des Einzelfalls, vor der Ohnmacht, angesichts der Tatsache, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse offenbar Vergewaltigungen hervorbringen und/oder begünstigen und wir keine gesellschaftlich relevanten Mittel dagegen finden können. Also soll der Einzelfall konret und praktisch genutzt werden, um diese Ohnmacht angesichts der Übermacht des gesellschaftlichen Ganzen aufzulösen. Aber anstatt den Einzelfall als das zu verstehen, was er ist – besonders – wird er universalisiert und somit (mit samt seiner Akteure) verdinglicht.

Die ‘DefMa’ ist somit keine Kritik sondern erhält gewisse, religionsartige Züge, da ihr eine Art mythologische Omnipotenz zugesprochen wird. Sie gibt Halt in einem Zustand der Hilflosigkeit. Mit den Religionen gemein hat sie aber ebenso, dass sie ein Opiat ist, sie benebelt den kritischen Geist und verspricht einfache Antworten, die es nicht gibt. Letztendlich verspricht sie Befreiung, fesselt die VerteidigerInnen der ‘DefMa’ jedoch unter das Korsett der verdinglichten, absoluten Konzeption von richtigem Verhalten – der Moral der ‘Szene’. Diese Moral vereinfach die Probleme auf gröbste Weise, macht differenzierte und individuelle Betrachtungen unmöglich und ist somit ein ‘easy way out’ – eben Flucht vor den gesellschaftlichen Widersprüchen.

2. ‘DefMa’ ist bürgerliche Ideologie der Moderne

 

‘DefMa’ ist die Verklärung des zum Prinzip erhobenen, einheitlichen Umgangs mit dem Generalsingular ‘sexuelle Grenzübertretung’ zur mythologischen Antwort auf die Frage nach dem Umgang mit Vergewaltigungen und anderen Formen von sexueller Gewalt.

Wie bereits erwähnt, erhält das Allgemeine (die einfache Lehre, die allen Situation gleich überzustülpende Umgangsweise) Vorschub vor das Besondere (die Anerkennung jeder Vergewaltigung, sexueller Gewalt etc. als je einzigartiger Akt, der nur im Rahmen des Allgemeinen passiert). Es lässt sich zwar zuweilen vom Einzelfall auf das Allgemeine schliessen, aber nicht notwendigerweise andersherum! Der Vorrang des Qualitativ-Einzigartigen ist notwendige Voraussetzung zur Lösung der vorliegenden Probleme sowie gegenüber den Opfern die einzig angemessene, weil nicht instrumentell-verdinglichende Herangehensweise. Pathetisch ausgedrückt: Wir sind es den Opfern schuldig, ihre Schicksale nicht als ‘pars pro toto’ zu behandeln und sie nicht in Bedeutungsrahmen zu zwängen, die ihren Schicksalen notwendigerweise nicht gerecht werden.

‘DefMa’ in ihrer letzten Konsequenz tritt selbst noch hinter die moderne Justiz zurück, da sie die Unschuldsvermutung unterminiert. Aus der Kritik der bürgerlichen Justiz und deren Umgang mit Vergewaltigungen folgt die einfach Umkehrung des Prinzips. Anstelle der Unschuldvermutung steht das Dogma des Verbots, ‘Tätermeinung zu reproduzieren’. Dies ist ein klassisches Beispiel für die undialektische Vorgehensweise der autonomen Szene mit im Kern legitimen Anliegen (Kritik der Form der Beweislast für Vergewaltigungsopfer vor Gericht). Es ist ebenso Ausdruck eines verdinglichten Bewusstseins, das nur in starren Oppositionen denken kann. Kurz gesagt: Nur weil die Richterschaft in Verhandlungen um Vergewaltigungen aus der Unschuldsvermutung nur all zu oft eine Unschuldsannahme macht, folgt nicht, dass das Prinzip als solches über Bord zu werfen ist, sondern vielmehr gilt es, die Justiz als solche als einen sozialen Akteur zu entlarven, der nicht im sozialen Vakuum agiert und der Interessen vertritt. Nämlich sind dies neben den offensichtlichen Klassen- und Kapitalinteressen auch oftmals die Interessen der männlichen Herrschaft. Andererseits wäre jedoch ein Bild, dass ebendiese Justiz als in jedem Fall für die TäterInnen handelnd dämonisiert, ebenso weit von den wahren Verhältnissen entfernt. Mal ‘populistisch’ gesagt: Szenepopulismus ist keine Antwort auf Klassen- und Männerjustiz.

3. ‘DefMa’ ist Meinungstotalitarismus

 

‘DefMa’ geriert sich als ultimative Antwort auf hochkomplexe, soziale Phänomene und negiert die anhaltenden, (auch wissenschaftlichen) Diskussionen um das Thema. Durch Unterbindung der Diskussionsgrundlage (Tätermeinung-Reproduktion / es-gibt-nur-eine-Wahrheit etc.) wird sowohl Progress als auch Verwerfung potenziell unmöglich gemacht.

‘DefMa’ ist somit ‘ideologische Inzucht’, da ihre Entwicklung nur unter Anerkennung der ‘DefMa’ von statten gehen kann, sofern dissidente oder schlichtweg andere Meinungen als Täterschutz, sexistisch oder dergleichen diffamiert werden. Totalitär hieran ist auch die Beweisführung für ebendiese ‘Täterschutz’-Vorwürfe, da diese – wie das bei Ideologien gemeinhin so ist – ein in sich geschlossenes System gegenseitiger Anerkennung und axiomatischer Grundannahmen ist, das zirkelschlussartig argumentativ begründet wird. Dies ist jedoch keinesfalls mit einem Wahrheitsgehalt des Arguments zu vergleichen! Wenn jedoch alle dissidenten Positionen Täterschutz sind, eben dieser ‘Täterschutz’ aber das ist, was keinerlei Stimme haben darf(!), damit das System in sich stabil bleibt, so ist jede Kritk ausgeschlossen, die die Axiome, also unumstößlichen Grundannahmen, der ‘DefMa’ nicht bereits assimiliert und als wahr, geboten und richtig anerkannt hat.

4. ‘DefMa’ ist unwissenschaftlich

Wer das Phänomen der Vergewaltigung behandeln will, um praktische Handlungsmöglichkeiten zu erörtern und Handlungsräume auszuweiten, um der Ohnmacht bürgerlicher Justiz zu entkommen, sollte sich nicht an die autonome Szene und deren dogmatisch-fetischisierten Handlungsimperativen wenden, sondern sich zunächst (auch und vor allem) der bereits bestehenden, wissenschaftlichen Literatur widmen. Wohlgemerkt, wir reden davon, was sich politisch als ernstzunehmend verstehende Gruppen tun sollten, um Konzepte zu erarbeiten. Nicht, was in einer Ad-Hoc Situation zu tun sei. Aber derlei Ad-Hoc-Handlungsräume sind nur zu erarbeiten, wenn ebensolche theoretische Vor-Arbeit gemacht wurde. In diesem Problem zeigt sich auch der oft sichtbare Narzissmus der autonomen ‘Szene’, also die Phantasie, man könne – isoliert von der gesellschaftlichen Debatte – die Welt erklären und brauche dafür niemand als sich selbst. Und um Missverständnisse vorzubeugen: Ein paar Phrasen aus dem Queer-Theorie- oder dem Gender-Studies-Einführungskurs sind nicht das, was derlei theoretische und ergebnisoffene Arbeit meint.

Die Beiträge der autonomen Szene zu diesem Thema sind leider durch die Bank ungeeignet, um ernstzunehmenden Diskussionsstandarts gerecht zu werden, differenzierte Blicke auf das Problem zu ermöglichen oder auch nur in sich schlüssig zu argumentieren. Stattdessen sind es in der Regel politische Pamphlete unterschiedlicher Länge, die über Phrasen, einfache Leitsätze, dogmatische Betrachtungsweisen und – so könnte pointiert werden – verdinglichtes Bewusstsein nicht hinausgehen. Zu Weilen sind sie sogar beschämend naiv und unverantwortlich vereinfachend verfasst.

Die Diskussion über Vergewaltigungen als soziales Phänomen wird beispielsweise in der Geschichtswissenschaft (historische Genese der Vergewaltigung als soziale Praxis, Vergewaltigung in Kriegen und Ausnahmezuständen, Vergewaltigung als Kulturphänomen unterschiedlicher Epochen, Genese der Geschlechterbeziehungen und ihre Gewaltimplikationen), in der Gewaltsoziologie, in der Psychologie (Sozialpsychologie, forensischen Psychologie, Psychoanalyse etc.), in der Kriminologie und der Rechtswissenschaft und natürlich auch in der Frauen-und Geschlechterforschung geführt. Hier ist man weit davon entfernt, dieses Jahrtausende alte, sich stets wandelnde, jedoch stets latente bis omnipräsente Problem dergestalt zu lösen, dass einfach das Opfer jegliche Entscheidungsgewalt annimmt. Es wäre völlig absurd, zu glauben, dass diese Einseitigkeit der Handlungsmöglichkeiten zu einem Erkenntnisgewinn und einem Zugewinn an Handlungsräumen (jenseits der Lynchjustiz und der mittelalterlichen Idee der Vogel’freiheit’) führe. Wie bereits erwähnt, folgt durch ‘DefMa’ aus der Kritik an der bürgerlichen, justiziellen Verfahrensweise mit Vergewaltigungen nur eine Handlungsoption, die noch hinter die bürgerliche Justiz zurückfällt.

5. ‘DefMa’ verzerrt den Begriff und die Bedeutung von Vergewaltigungen

 

Die ‘DefMa’ definiert den Begriff Vergewaltigung positiv-eindimensional, d.h. die Definition liegt in der Perspektive des Opfers und ist von diesem exakt zu bestimmen, da das Opfer die absolute Macht der Definition besitzen soll. Das, was durch den Begriff der Vergewaltigung abgebildet wird, kann dann von ‘anzüglichen Blicken’ bis zur gewaltsamen, nicht-konsensualen Penetration reichen. Innerhalb der Gewaltforschung gibt es auf Grund des Wesens des Begriffs als solchem anhaltende Diskussion darüber, was einzelne Begriffe wie ‘Gewalt’, ‘Vergewaltigung’ oder ‘Verletzung’ nun bedeuten und abbilden sollen. Es liegt in der Natur der Sache, dass Begriffe vereinfachen und identisch machen, was sonst als soziale Mannigfaltigkeit und somit unterschiedlich auftritt. Was Einzigartig ist, wird vergleich- und tauschbar gemacht. Dies ist schlussendlich logisch und in letzter Konsequenz unvermeidbar, aber es muss zu Bewusstsein geführt werden. Passiert dies nicht, werden die Verhältnisse und Phänomene, die durch Begriffe abgebildet werden, weiter verdinglicht.

Es gibt also das Problem, dass Unklarheit darüber herrscht, welche Phänomene als Vergewaltigung bezeichnet werden, wo eine solche beginnt und wo sie endet. Daraus darf aber nicht folgen, jegliche Definitionsbestrebungen und Aushandlungsprozesse zu negieren. Wenn das Opfer jeglichen Spielraum hat, alles als Vergewaltigung zu bezeichnen und entsprechende Konsequenzen einzufordern, entfernen wir uns von sinnhafter Kommunikation und geben jegliches Potenzial kritische Vernunft nachhaltig auf. Kurz gesagt: Wenn alles Vergewaltigung sein kann – und das ist das Grundwesen der ‘DefMa’ – dann gibt es ergo auch keine Vergewaltigung mehr, weil der Begriff universalisiert und inflationär verwendet wird. Der Begriff wird nicht durch ‘DefMa’ gestärkt, sondern seines Inhalts entleert und entwertet.

Wir müssen also in einen Zustand übergehen, in dem jeder ‘Fall’ einzigartig und in seiner je eigenen Qualität und Dynamik begriffen wird. Ob nun eine Vergewaltigung oder eine ‘sexuelle Belästigung’ vorliegt, ist ausserhalb juristischer Rahmen zweitrangig, denn welcher Sieg ist errungen, wenn wir uns darauf einigen, dass das, was das Opfer erlitten hat, nicht mehr ‘a’ sondern ‘b’ genannt wird. Es ist purer Idealismus, zu glauben, dass die Bezeichnung als solche bereits eine Veränderung der Situation für das Opfer ausmacht. Insofern muss auch der Mut aufgebracht werden, deutlich zu sagen: „Nein, ein Blick kann nicht vergewaltigen!“ Die Perspektive, dass ein Blick bereits eine Vergewaltigung sein kann, relativiert Vergewaltigungen und verhöhnt deren Opfer. Nichtsdestotrotz ist damit die unangenehme Situation, blöde angemacht oder begafft zu werden, nicht weniger schlimm geworden. Diese Spannung, die durch die erdrückende Komplexität der Einzelfälle ausgeht, auszuhalten, ist eine Bedingung für einen vernünftigen Umgang mit dem behandelten Problem. Wenn wir diese Spannung aushalten, können wir überhaupt sinnvoll mit Opfern und Tätern arbeiten. Dadurch werden wir zwar vielleicht nicht der herrschenden Moral der ‘Szene’ gerecht, wohl aber den Menschen hinter den ‘Fällen’ – und darum geht es.

6. ‘DefMa’ ist unpraktikabel

 

Aus dem bisher erwähnten kann erahnt werden, wieso die Geschichte der Definitionsmacht in der autonomen Szene eine Geschichte der Katastrophen ist. Uns ist kein Fall bekannt, in dem die Definitionsmacht ‘lehrbuchartig’ (wenn es denn immerhin ein solches Lehrbuch gäbe!) angewandt wurde und funktioniert hätte. Stattdessen brechen anhand der Umsetzungsversuche regelmäßige tiefe Streitigkeiten aus, die dramatische Folgen haben – von Rauswürfen aus Gruppen, sozialen Kreisen etc. bis zu körperlicher Gewalt. Eine weitere solche Katastrophenkonsequenz ist die Tatsache, dass sich seitens der ‘DefMa’-BefürworterInnen ebenso gleichsam eine Definitionsmacht über die Begriffe Antisexismus, Feminismus und dergleichen angeeignet wurde. Dies bedeutet, dass Menschen bspw. ihre feministischen Positionen abgesprochen werden, weil sie bestimmten Dogmen nicht nachlaufen. Diese Art von Beleidigung ist für Linke massiv und nicht tolerierbar. Dass derartige Beleidigungen einer ergebnisorientierten Debattenkultur nicht zuträglich sind, sollte mehr als deutlich sein.

Die einfache Empirie der Fälle, dass also (vermutlich) kein Fall so ablief, wie gewünscht, zeichnet schon ein denkbar schlechtes Bild für die ‘DefMa’. Hierfür sind – wie gesagt – nicht einfach nur ‘die Anderen’ schuld, sondern die ‘DefMa’ in ihrer logischen Konzeption.

7. ‘DefMa’ ist unverantwortlich

 

Die ‘DefMa’ widerspricht dem Anliegen des verantwortungsbewussten Umgangs mit Vergewaltigungsfällen, weil sie weder Instrument des Erkenntnisgewinns, noch effektive Hilfe für betroffene Menschen, noch eine Erweiterung der Handlungsräume jenseits bürgerlicher Justiz ist. Dieser Zustand wird bewusst und willentlich so aufrecht erhalten, indem das ‘DefMa’-Dogma mantra-artig heruntergebetet wird. Ebenso mantra-artig wird nun bei einigen LeserInnen der Einwand folgen: „Aber das kommt doch nur, weil die ‘DefMa’-GegnerInnen in der Szene alles Chauvis sind, die selbst Sexismen verinnerlicht haben und die sich nicht mit dem Thema ‘auseinandersetzen’!“

Mitnichten ist es so einfach und die Auseinandersetzung, die so oft gutmenschlich eingefordert wird, heißt i.d.R. nichts anderes, als die Unterordnung unter das Primat der Macht (der Szene), an die es sich zu halten gilt. Die Weltsicht, dass alle Anderen falsch liegen (müssen) und somit zu Gegnern werden, ist die Logik des Krieges, des verdinglichten Bewusstseins und der Konkurrenz; eben bürgerlich bis ins Mark. Salopp könnte diesem Einwand entgegnet werden: „Das hätten Sie wohl gern…“ Eine inhaltliche Debatte bestimmt sich durch die Arbeit am Begriff und durch argumentativ begründete Kritik. Das, was als ‘Auseinandersetzung’ gefordert wird muss ebenso und vielleicht oft noch dringlicher von den sogenannten ‘autonomen AntisexistInnen’ vollzogen werden, über das Parolendreschen hinausgehen und in einem gesellschaftlichen Raum stattfinden, der fern von Angst und Bedrohung ist.

Wie selektiv darüber hinaus in der autonomen Szene mit der Solidarität mit Opfern sexualisierter Gewalt umgegangen wird, zeigen etliche Beispiele aus diversen deutschen Großstädten, in denen dieselben Akteure im einen Fall „Vergewaltigung!“ kreischen und im nächsten Fall unter fadenscheinigen Vorwänden die Fälle vom Tisch fegen und eine Handlungsnotwendigkeit von sich weisen. Wir haben uns dazu entschieden, an dieser Stelle nicht mit Beispielen aufzuwarten, da wir in diesem Fall eine allgemeine Diskussion für sinnvoller halten, um nicht in die missliche Lage zu gelangen, den jeweiligen Fällen, die hinter den Beispielen versteckt sind, nicht gerecht werden zu können. Wir wollen schlicht gesagt die Katastrophen der ‘Szene’ nicht auch noch instrumentalisieren. Wer nur einigermaßen mit offenen Augen derlei Vorgänge beobachtet, wird vermutlich auch wissen, wovon wir sprechen.

„Da steh ich nun, ich armer Tohr, und binn so klug als wie zuvor“

Das andere Umgänge mit den unterschiedlichen Formen sexueller/sexualisierter Gewalt gefunden werden müssen, steht also ausser Frage. Ansätze hierfür wollen wir nicht positiv bestimmen (‘so geht es und nicht anders’) sondern können nur das Angebot schaffen, diese negativ aus der Kritik abzuleiten (‘so darf es nicht sein’). Die Anerkennung der Einzigartigkeit der ‘Fälle’ und somit der Individuen hinter den Fällen ist eine erste Bedingung für einen grundlegend neuen Weg. Dieses Thesenpapier möchte Teil dieses neuen Weges sein.

Wir hoffen, dass wir neben Wut und Empörung auch kritisches Bewusstsein und Debatten hervorrufen.

Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit.

Juli2010

Verfasst von: Tante E . Verfasst am: Fr, 19.07.2013 – 00:40.

1.

(a) Defma ist keine Kritik, auch keine Theorie, sondern ein pragmatisch-praktisches Konzept. Dieses kann zwar theoretisch diskutiert und kritisiert werden, kann Gegenstand theoretischer Reflexion sein, das heißt jedoch nicht, dass seine Beschaffenheit selbst nach diesem Maßstab zu bewerten ist. Das Ziel von Defma ist nicht eine universalistische Erklärung oder Norm, sondern die praktische Durchsetzung einer partikularistisch-aktualen Perspektive, die eben genau der universalen Normenwelt gegenübergestellt wird. Defma soll und kann auch gar nicht als theoretisches Konzept verstanden werden, das wäre eine contradicto in adjecto. Als praktisches Konzept ist es auf der konkret-unmittelbaren Ebene der nicht als solcher fassbaren „Alltagserfahrung“ situiert und will bewusst auf dieser Ebene verbleiben. Die Entscheidung hierfür ist aber keine universale, sondern eine negativ-partikulare: die herrschende Universalität wird praktisch subvertiert. Defma kann deshalb auch nur als unmittelbare Praxis des Umgangs mit der Unmittelbarkeit verhandelt werden. Alles andere verdreht die Problemstellung von Grund auf.

(b) Defma ist an sich ist nicht moralisierend, sondern das Gegenteil von Moral (die eine durch und durch bürgerliche Sache ist): praktische Macht, wenn eins so will eine beschränkte „Gegen-Souveränität“. Dass es bei der Umsetzung in manchen Fällen zu Moralisierungen kommt, ist eine andere Sache, aber nicht grundsätzlich dem Konzept anzuschulden.

 

2.

(a)Dass Defma als „einheitlicher Umgang“ imaginiert wird, hat eher mit der universalistischen Brille der Autor_innen zu tun, als der Sache selbst. Denn Defma ist ja gerade der Versuch, die Uneinheitlichkeit der Verhältnisse, die partikulare Zuschreibung, die in einer patriarchalen Vergesellschaftung symbolisch maßgeblich „dem Weiblichen“ zukommt, praktisch und emanzipatorisch aufs Tableau zu kommen. Und zwar dadurch, dass diese Partikularität in ihrer patriarchalen Zuschreibung gespiegelt wird. Diese Spiegelung selbst ist aber deshalb noch kein universaler Bedeutungsrahmen, kann es in den gegebenen Verhältnissen gar nicht sein (solange patriarchale Vergesellschaftung und die mit ihrer einhergehende Zweigeschlechter(herrschafts)ordnung weiter wirken). Sie ist ein pragmatischer und unmittelbar Umgang mit den Verhältnissen selbst und kann auch nie etwas anderes sein. Es wäre deshalb auch unmöglich, Defma in bürgerliches Recht zu gießen, ebenso wie Defma selbst keine bürgerliche-moderne Ideologie sein kann, weil sie _keine_ universale Norm instituiert, sondern die partikulare Erfahrung in den Vordergrund rückt. Ums für gewisse Adept_innen verständlicher zu machen. Es ist wie eine praktische Version des Vorgehens in der Theorie, bei der es zu einer negativ-dialektischen Artikulation des Nicht-Identischen im Kontext der Identitätslogik kommt: letztere wird durch den Modus der Kritik nicht notwendig reproduziert, nur weil in einem allgemein-artikulierten Weise über das Nicht-Identische gesprochen wird.

(b)Apropos Reproduktion bürgerlicher Ideologie: die Unschuldsvermutung ist ein Konzept des bürgerlichen Rechts, das auf ein antiquiertes Schuldkonzept setzt (was letztlich mit Äquivalenzdenken und darauf aufbauenden abstrakten Ethiken zu tun hat). Die Unschuldsvermutung macht also in einer progressiven Perspektive auf normative Probleme überhaupt keinen Sinn: wenn es nicht um Schuld geht, sondern um den (konkreten) Umgang mit Problemen, wie etwa Traumata, Verletzungen und Herrschafts- und Gewalterfahrungen, dann ist die ganze weitere Argumentation eine Themenverfehlung (die darauf beruht, dass die Autor_innen selbst nicht außerhalb der bürgerlichen (Rechts-)Ideologie denken können). Fragen der schlechten Umsetzung mit dem Konzept in eins zu setzen verbietet sich im Übrigen auch hier weiterhin.

 

3. ; 4.

Siehe 1(a)

 

5.

Gedankenexperimente und Robinsonaden entsprechen in der Regel nicht nur nicht der Realität, sondern verzerren sie in ideologischer Weise. Wenn die Extension des Begriffs „Vergewaltigung“ unendlich wäre, müsste die Intension nihil sein – schöne Logik, nur ist das nicht der Fall. Der zu untersuchende Fall ist eine konkrete, komplexe, nicht-identische Konstellation, die einer zwar basal begrifflich gefassten Kategorie zuordenbar sind („Vergewaltigung“), aber in dieser – per definitionem! – nicht aufgehen können. Diese Problematik gegen sich selbst zu wenden ist auch eine Art von Zirkelschluss; aber kein emanzipatorischer. Denn „verdinglicht“ werden die Verhältnisse nicht erst durch unseren begrifflichen Nachvollzug, sondern sie sind es stets schon durch unsere soziale Praxis. Diese Praxis erzeugt in ihrer herrschenden Form regelmäßig strukturell patriarchale Gewalt, die sich u.a. in komplex-konkreter Weise auf der Mikroebene psycho-sozialer Verhältnisse artikuliert. Dass die praktische Wendung dieser sozialen Tatbestände, die notwendig AUCH begrifflich vermittelt auftreten muss, nicht immer leicht fällt bzw. notwendig Ambivalenzen hervorbringt ist in den Verhältnissen selbst angelegt. Dies mit absurd-universalisierenden logischen Gedankenexperimenten auszunutzen ist billige Taktik, allerdings erneut nicht ebenadäquat, was die Auseinandersetzung betrifft. Das Ziel ist dieser Taktik ist es, von der konkreten Problematik und einer praktischen Umfangsform mit ihr, auf die Ebene philosophischer Überlegungen zu wechseln. Erst nach diesem idealistischen Schritt, muss die Praxis des Umgangs (in der die „Benennung“ zweitrangig ist, das ist ja gerade ihre Essenz) als idealistischer Bezeichnungsrelativismus erscheinen. Defma ist aber kein philosophisches Konzept, zu bekämpfen ist hier nicht der Poststrukturalismus o.ä. Dämonen, sondern es geht um ein unmittelbar-praktisches Handlungsinstrument. Wie sehr die Autor_innen den Widerspruch von Theorie und Praxis hier in idealistischer Weise nivellieren wird dadurch deutlich, dass sie in ideologischer Weise zuerst selbst ein (absurdes) konkretes Einzelbeispiel einführen („der vergewaltigende Blick“), um damit ihre theoretische Perspektive des „Aushaltens der Spannung“ zu profilieren. Die Spannung, der Widerspruch ist aber nicht in der Theorie situiert, sondern in der konkret-partikularen Praxis. Auszuhalten sind folglich die Widersprüche, die aus der Umsetzung der Praxis erwachsen.

 

6.

(a) Klassisches Argumentum ad ignoratiam: nur weil den Autor_innen keine funktionierenden Fälle bekannt sind, schließen sie daraus, dass keine existieren. Das verkennt aber natürlich auch die Beschaffenheit der Angelegenheit grundlegend. Denn bekannt werden grundsätzlich (fast) nur jene Fälle, die nicht funktionieren, während die – sinnvolle – Anonymität und das Schweigen bei funktionierenden Fällen (wenn Täter sich an Abmachungen halten, ev. sogar die Reproduktion patriarchaler Gewalt nach Reflexion und Aufarbeitung habituell wie praktisch einstellen) dazu führt, dass sie nicht diskutiert bzw. überhaupt bekannt werden.

(b) Bei Defma geht es nicht um „Antisexismus, Feminismus und dergleichen“, obwohl Defma die notwendige praktische KONSEQUENZ aus einer richtigen, feministischen und antisexistischen Analyse patriarchaler Gewaltverhältnisse ist. Wenn Defma benutzt wird um (implizit) bestimmte feministische Positionen zu privilegieren handelt es sich um einen Missbrauch. Umgekehrt kann jedoch die radikale und v.a. praktische Ablehnung des Konzepts niemals das Resultat einer ernsthaften feministischen Position sein.

 

7.

Bei Defma geht es nicht um das Primat der Macht der Szene, sondern um die Macht einer von sexualisierter Gewalt betroffenen Person, diese als solche aufzuzeigen und daraus praktische Konsequenzen zu ziehen. Der Akt des Aufzeigens steht dabei nicht für sich, sondern ist UNMITTELBAR an die Geltung der praktischen Konsequenzen gebunden. Nur diese Unmittelbarkeit gewährleistet eine praktisch-emanzipatorische Artikulation der Position der Betroffenen, da sie dem Gegenstand der Praxis selbst, der partikularen Unmittelbarkeit, entspricht.

Wenn eine Szene diese Unmittelbarkeit ihrerseits ausdehnt oder auf die Artikulation anderer Problematiken ausdehnt, dann ist das ein Missbrauch von Defma.

Wenn die gegebenen Verhältnisse in deutschen autonomen Szenen derart gestaltet sind, wie beschrieben, dann spricht das gegen diese Szenen, gegen die involvierten Individuen, aber nicht gegen den emanzipatorischen Gehalt von Defma. Vereinfacht gesagt: die problematischen Tendenzen würden sich auch ohne Defma in anderer Weise ergeben (und tun das auch tatsächlich); mit Defma kann jedoch zumindest ein Stück weit eine emanzipatorisch-antipatriarchale Praxis vorangetrieben werden, die Betroffene vor dem schlimmsten Auswuchs patriarchaler Gewalt – ihrer ungestörten, selbst universalisierten, andauernden tautologischen Reproduktion – schützt. Unter den gegebenen Verhältnissen gibt es keine bessere Umgangsweise um die gewünschten Ziele zu erreichen. Das heißt nicht, dass es nicht auch andere wichtige feministische Praxen gibt, wie den Umgang mit der sexistischen Ideologie, Alltagsexismen und androzentrischen Denkweisen (wie etwa jene, die durchgängig im Text zum Ausdruck kommt). Es heißt, dass dies aus Gründen, die ganz offensichtlich in der Sache selbst liegen, der einzige schlüssige Umgang mit sexualisierter Gewalt ist. Wer das nicht versteht – zurück zum Start, Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen und ihren Konsequenzen!

 

Neuer Pragmatismus als Moment einer historischen Krise des Politischen?

In den letzten Blog-Einträgen wurde pointiert ein pragmatisches Politik- und Wissenschaftsverständnis dargestellt. Unabhängig davon, ob die wissenschafts- und gesellschaftstheoretischen Grundlagen dieses Verständnisses an und für sich zu halten sind, möchte ich in diesem Beitrag einige konkretere Überlegungen anstellen, die m.E. belegen, dass ein derartiges pragmatisches Verständnis (emanzipatorischer) Praxis bestenfalls ein kleiner Teil der Wahrheit sein kann.

Es besteht kein Zweifel, dass Aspekte von dem, was als „experimentelles Politikverständnis“ im Blogeintrag von 27.8. vorgestellt wurde, von hoher Relevanz sind. Gerade für sich konstituierende soziale Bewegung, die sich beständig vor extrem komplexen Entscheidungskonstellationen gestellt sehen und stark auf spontane, nicht berechenbaren „Politiken des Moments“ aufbauen müssen, ist ein experimentelles Politikverständnis bedeutsam. Hier gilt, was schon die Zapatist_innen wussten: „preguntando caminamos“ (fragend schreiten wir voran).

Dies ist allerdings nur ein kleiner Teil dessen, was heute „das Politische“ ausmacht. Wollen wir das Politische wirklich umfassend verstehen, so müssen wir es auch in seiner Verstetigung durchdringen, die über den bloßen Moment hinausreicht und auch mehr ist, als nur die Summe der aneinandergereihten Momente. Auch neuere poststrukturalistisch inspirierte Demokratietheorien (z.B. die Ernesto Laclau, Chantal Mouffe, Jacques Rancière etc.) verstehen ähnlich wie der Pragmatismus das Politische wesentlich als „Ereignis“ bzw. als andauernde Fortsetzung von (radikal-)demokratischen „Situationen“, die sich wahlweise als „Antagonismus“ (Mouffe) oder „politische Subjektivierung (ohne politischer Identität)“ (Rancière) artikulieren.

Dies verkennt jedoch den historischen Charakter des Politischen. Ein kritisches gesellschaftstheoretisches Verständnis betont demgegenüber stets die historische Gewordenheit von sozialen Verhältnissen und betrachtet „soziale Logiken“, die zugespitzt eine gewisse Realität fassen mögen, nie als universell und transhistorisch geltende Prinzipien. Transhistorische Argumente – mögen sie nun explizit (sozialontologisch: so und nicht anders ist die Welt/der Mensch/ das Politische etc.) oder implizit (konstruktivistisch: wir reden nicht darüber woher etwas kommt, aber irgendwie ist es doch) sein – haben stets das Problem der Selbstbegründung. Demgegenüber stehen historisch-materialistische Ansätze, die (mit dem Konstruktivismus und gegen die Sozialontologie) zwar die Relativität akzeptieren, sie aber (gegen den Konstruktivismus und mit sozialontologischen Ansätzen) klar in Raum und Zeit verorten.

Ein historisch-materialistisches Politikverständnis möchte nun verstehen, wie es überhaupt zur Verstetigung menschlicher Handlungen im Politischen kommen konnte und versucht dies im Konzept sozialer Formen zu fassen, die spezifisch für die vorherrschende historische Formation sind. Praxis ist demnach niemals schlechthin zu fassen, sondern stets schon vor dem Hintergrund eines vorgefassten Korsetts an „Handlungsoptionen“, die sich tatsächlich zugespitzt als Set „sozialer Logiken“ (des Politischen) erfassen lassen.

Eine zentrale soziale Logik des Politischen ist die der Legitimation und der Identität: Damit das moderne Politische funktioniert, damit eine (stets illusionäre, nicht unmittelbar soziale, „fetischistische“) Form der Kollektivität hergestellt werden kann, die zur Entscheidungsmacht führt, bedarf es der Legitimation. Das soziale Ereignis und dessen Legitimation treten also auseinander. Legitimation erfolgt im modernen Politischen regelmäßig über den Staat bzw. sein Souveränitätsversprechen. Als Instanz, die immer (implizit, aber bisweilen auch explizit) auf die Existenz des Gewaltmonopols verweist, ist der Staat ganz klar am Besten in der Lage, Legitimationsfolien zu liefern, welche die bestehende gesellschaftliche Ordnung (der sozialen Formen) umfassend konservieren, ja sie selbst repräsentieren. Diese ideologischen Konzepte des Politischen, die abstrakt-philosophisch in zentralen Quellen des modern-aufklärerischen Denkens stipuliert sind (so z.B. den sogenannten „Vertragstheorien“, aber auch rechtspositivistischen und moralisch-normativistischen Politikonzeptionen), sind theoretisch zu kritisieren, sie stellen jedoch auch in der Praxis eine komplexe und ambivalente Problemkonstellation dar, die nicht einfach zu übergehen ist.

Deutlich wird dies v.a. dann, wenn politische Legitimation, die Findung einer (fiktiven) kollektiven Identität nicht mehr funktioniert. Aus zahlreichen Gründen, die mit der historischen Entwicklung der Form sozialer Verhältnisse überhaupt zu tun haben, stehen wir heute vermehrt vor Situationen, in denen die legitimatorische Logik des Politischen nicht mehr oder nicht mehr richtig funktioniert. Dies kann als „Krise des Politischen“ bzw. der historischen Form des Politischen überhaupt gedeutet werden. Gerade in den neuesten sozialen Bewegungen, die einen Bruch mit der vorgefundenen staatlichen Ordnung anstreben, wird dies auch als Identitätskrise deutlich. Sie sind gewissermaßen direkt von den breiteren Veränderungen betroffen, stehen unmittelbar vor neuen und radikal offenen Situationen. Dabei ist eben die Offenheit selbst neuartig: Die soziale Form des Politischen funktioniert zunehmend nicht mehr so, wie sie das früher getan hat. Damit wird die Politik der sozialen Bewegungen – prototypisch fassbar in der situativen „Entscheidung“ auf der Straße/im öffentlichen Raum – auf ganz andere Weise „experimentell“, als sie das früher war. Denn natürlich waren alle erruptionsartigen, mehr oder minder unvorbereitet-spontanen Transformationen, ganz klassisch die „revolutionären Situationen“, immer schon hochgradig von einer Unbestimmtheit und Offenheit des Moments geprägt. Gewissermaßen wie in einem Druckkochtopf verdichtet sich die ganze Komplexität und strukturelle Festigkeit der gewordenen historischen Verhältnisse räumlich und zeitlich soweit, dass bisweilen einzelne Entscheidungen (mitunter auch von wenigen Menschen) eine sonst systemisch nicht vorgesehene bzw. existente Relevanz erhalten. Dies könnte auch als „pragmatischer Moment“ des Politischen verstanden werden, der zwar nicht nur in der radikalen Transformation existent ist, hier allein aber umfassend zur Geltung kommt.

Allerdings war auch dieser Moment bisher niemals außerhalb der politischen Form an sich angesiedelt. Zumindest der legitimatorische und identitäre Aspekt des Politischen war immer zentral für die Möglichkeit sozialer Transformation. Ein gewisses Gefühl hierfür vermittelt vielleicht ein kulturelles Beispiel (das heute revolutionäre Identität ebenso notwendig wie selbstverständlich kulturindustrielles Produkt ist, spricht bereits für die Verhältnisse bzw. das krisenhafte in ihnen), das sich auf Youtube abrufen lässt:

Der Pathos und die Aufladung mit konstitutiven Ideologien des modernen Politischen werden für mich in diesem Ausschnitt aus dem (vor kurzem – erneut – verfilmten) Musical „Les Miserables“ sehr gut deutlich. Einerseits der Form nach – ganz offensichtlich wird wohl den meisten Menschen, die im modernen politischen Imaginären sozialisiert wurden, schnell eingängig sein, dass es hier um jene Art tragisch-heroischre Situationen handelt, die mehr als nur „unter die Haut gehen“. Denn in ihnen wird eine Art von identitärer Aufladung transportiert, die es erst bewerkstelligt ein (partielles, „experimentelles“ und zeit-räumlich beschränktes) „Wir“ zu konstituieren, welches wiederum zentral ist für die Kohäsion und eben jene situative „Entscheidung“, welche transformative Momente auszeichnet. Recht deutlich wird dies an Hand der Tatsache, dass genau jenes Lied aus dem bekannten Muscial nicht nur „prototypisch“ für jene identitäre Form steht, die immer schon Voraussetzung politischer Konstiturierung (und nicht erst ihr „experimentelles Resultat“) ist. Es wurde auch tatsächlich in zahlreichen der jüngeren Proteste und Kämpfe sinnbildlich verwendet, hat auf eigentümliche Weise selbst Wirkung gezeigt. Ursprünglich ja nur als kulturelles Imitat bzw. Abbildung gedacht, wurde es im Gezi-Park in der Türkei das Stück gesungen, es war auch Bestandteil zahlreicher Flash-Mobs, spontaner politischer Artikulationen und Performances von Kairo über die USA bis nach Japan (ebenfalls auf Youtube recherchierbar). Es handelt sich hier freilich weiterhin nur um ein Beispiel, allerdings steht dieses exemplarische doch noch für etwas mehr.

Denn interessant ist auch der Inhalt dieses Liedes – es geht um die Frühphase bürgerlich-demokratischer Revolutionen, in denen die vollendete Durchsetzung des modernen politischen Imaginären, der Identität gebenden Logik politischer Kollektivität, die wir heute ganz natürlich „verstehen“, ihren Anfang nahm. Hier liegen wichtige Essentials eines gewissen gemeinsamen Nenners politischer Ideologie – Freiheit, Gleichheit, Solidarität – in klassischer und zugleich idealtypisch herauspräparierter Form zu Tage. Es sind nun genau diese Ideale, die ihrer Substanz nach heute überholt erscheinen, gewissermaßen von der Realität nicht nur eingeholt, sondern überholt wurden. In Zeiten der „Postdemokratie“, der zunehmend verselbstständigten und funktional gewordenen politisch-regulatorischen Sphäre, in der sich Inhalte verschiedener politischer Antagonist_innen nur noch nominell unterscheiden, können auch die hohen Ideale, die im Lied besungen werden, ganz unmittelbar als Fiktion, als schöne Illusion ausgewiesen werden. Genauso wie auch die Politik für die immer größere Zahl der (mehr oder weniger reflektiert) „politikverdrossenen“ Menschen kaum mehr als ein Theaterstück ist, sind die alten Ideale, all das, was überhaupt noch Identität zu geben verspricht, ganz unzweideutig reduziert auf eine „Phantasie aus Hollywood“.

Dass sie nie viel mehr als eine Phantasie waren, der ideologische Charakter der politischen Ideale der Moderne schnell deutlich wird, wenn die tatsächlichen historischen Verhältnisse etwas genauer betrachtet werden, tut hier nichts dazu. Denn jedenfalls hat diese Ideologie lange Zeit funktioniert, ja war formativer Bestandteil jeglicher politischen Artikulation. Inhalt und Form haben gewissermaßen korrespondiert und ein legitimatorisches Ganzes konstituiert, das als „Politik“ eine eigenständige Relevanz neben dem Ökonomischen hatte und so nicht nur die ökonomischen Verhältnisse für die Menschen bisweilen gar in den Hintergrund rücken ließ, sondern sie implizit auch stabilisierte. Heute ist dieses Equilibrium, überhaupt jene Matrix sozialer Logik, die gesellschaftliche Synthesis in einem derartig komplexen System wie dem heutigen erst möglich macht, stark gestört. Das heißt nicht, dass die sozialen Formen irrelevant werden würden. Im Gegenteil rufen die Leute weiterhin die alten identitären Ideale an, ja vielleicht sogar noch naiver und gutgläubiger als dies früher der Fall war, wie an dem verlinkten Stück deutlich wird. Allerdings korrespondieren die illusionären identitätsgebenden Momente nicht mehr mit dem sozialen Inhalt, der tatsächlichen Welt der „Realpolitik“ bzw. der zunehmend unverblümten Verwaltung der „Sachzwänge“ politischer Institutionen. Dementsprechend unbestimmt und vage sind auch die Ziele und Wege der neuesten sozialen Bewegungen. Sie kämpfen für etwas, denn das bleibt weiterhin nötig, damit sie überhaupt kämpfen können. Aber was dies wirklich ist, das bleibt zunehmend unklar, kann innerhalb des bestehenden Denkkontinuums gar nicht mehr sinnvoll gefasst werden, ja wird von den Akteur_innen auch nicht einmal mehr systematisch zu reflektieren versucht[1].

In dieser Situation kann vielleicht wirklich von einer neuen Qualität des „pragmatischen Moments“ der Politik gesprochen werden, der zunehmend für sich alleine steht. Eine gewisse Beliebigkeit und die mehr oder minder aufgezwungene Akzeptanz des „Experimentellen“ zeichnen den Status Quo umfassend aus. Es stellt sich allerdings die Frage, wie dieser Status Quo einzuschätzen ist. Denn wenn es stimmt, dass in den bestehenden Verhältnissen kein umfassendes Herauskommen aus der politischen Form und den ihr innewohnenden identitären Momenten möglich ist, dann markiert dieses neue Pragmatische zumindest teilweise einen Mangel, eine Schwierigkeit, die auch emanzipatorische Projekte trifft, welche sich gegen die andere, strukturell verstetigte und systemerhaltende Seite des Politischen wendet. Kurzum gesagt: ohne gemeinsamer Ideale, ohne einer Vision und einer irgendwie universalisierbaren Vorstellung dessen, wohin sich Veränderung wenden soll, wird nicht nur die soziale Kohäsion von sozialen Bewegungen (weiterhin) schwach und kurzweilig bleiben. Auch werden zunehmend „substanzieller“ sich gerierende Konflikte, wie sie sich etwa im arabischen Frühling artikuliert haben, immer notwendigerweise „substanzlose“ politische Ergebnisse zeitigen, ja zu einem neuen Zustand der Anomie führen, der die Krise des Politischen völlig unverblümbt zum Ausdruck bringt. Diese Art von „Notstands-Pragmatismus“ kann bestenfalls als temporäres Ziel einer emanzipatorischen Bewegung herhalten, ist langfristig aber sicherlich weder die Umsetzung einer kategorialen Veränderung, noch den bestehenden politisch-regulierten Verhältnissen vorzuziehen. Denn selbst wenn letztere inzwischen hochgradig von innen heraus „verfault“ sind, sich selbst bereits in einer Art und Weise aushöhlen, die sie ähnlich fiktiv werden lässt, wie es ein politischer Bezug ist, der sich auf kulturindustrielles Produkt stützt, halten sie zumindest das Moment der Souveränität noch schlecht oder recht aufrecht. Und diese Souveränität gewährleistet eine gewisse Sicherheit, die heute und für die real existierende, fragmentierte und marginalisierte emanzipatorische Bewegung insofern notwendig erscheint, als sie den „Freiraum“ für bewusste und zielgerichtete Konstitutionsprozesse besser ermöglicht als jener Zustand eines anomischen Pragmatismus.

Gegenüber beiden, der systemerhaltenden und der reduktionistischen systemtransformierenden, Seiten ist letztlich darauf zu pochen, dass die politische Form selbst zu überwinden ist. Dass umgekehrt ein versöhntes soziales Ganzes möglich ist, dass weitgehend ohne grobe Antagonismen auskommt und eine Art von universeller Gemeinsamkeit konstituiert, die Partikularität nicht ausschließt, sondern integriert. Diese utopische Perspektive ist zentral für Transformation im Hier und Jetzt. Auch in einer solchen werden wir sicherlich nicht ohne Struktur auskommen, nicht per se rein experimentell vorgehen können. Allerdings wir es auch kein vorgefertigtes „Korsett“ sozialer Formen geben, die intransparent und verselbstständigt jeglicher (politischer) Handlung vorausgehen. Die Schwierigkeit bleibt schließlich, wie wir dorthin nicht kommen, ohne auf das Bestehende aufzubauen, in dem wir uns weiterhin notwendig befinden. Es gibt bekanntlich kein „Außen“, selbst dann, wenn das „Innen“, sich aus sich selbst heraus auflöst. Wie also die „people“, die wir – trotz aller Fiktion - singen hören wollen, aussehen könnten, dass ist die wirklich knifflige Frage. Zur Frage steht allerdings nicht, dass es sie braucht – denn das setzte ich heute mehr denn je voraus.

 

 



[1] Zumindest bei jenen Teilen, die nicht in radikalisierter Weise einen anti-modernistischen Kampf gegen die westlich-aufklärerischen Ideale des politischen Imaginären zu führen glauben, wie etwa die sogenannten “Islamist_innen”. Deren regressiver Reflex gegen all das, was zunehmend als globalisiere Realität für die gesamte Welt unumgänglich wird, ist natürlich auch nichts als eine negative Spiegelung der modernen Formen, ja im Gegenteil wurde jener Reflex in seiner „fundamentalistischen“ Ausgestaltung einer bewussten Rückwärtswendung erst durch die schon etablierte Durchsetzung jener Formen überhaupt erst möglich.

 

An Account of Pragmatist Politics and Science

In my last entry I tried to show how philosophical pragmatism might translate to the realm of politics in the form of “political experimentalism”. I developed this experimental mode of politics in contrast to a rational understanding of politics.

POLITICS

Following the rational paradigm there exists something like a “best solution” in politics. But it is not this claim of an optimal solution that is striking about the rational understanding of politics but its notion that this perfect answer to political problems can be found in a pure intellectual and abstract way. In other words, political solutions can and have to be planned in the offices and corridors of public agencies (or nowadays in the offices of think tanks, law firms and consulting companies) and later be carefully implemented and executed.

An experimental understanding of politics on the other hand, as it has been influenced by philosophical pragmatism, highlights how solutions to problems can only be found in practice. According to pragmatism we develop our understanding of the world by engaging it, by testing and constantly re-evaluating our concepts of it and by exploring the consequences of our actions. For politics this means that solutions to political problems have to be developed in the context of social practice. Progress can not be fully planned at an office desk. Instead we must proceed in an experimental way.

More concretely this implies that politics shouldn’t be afraid to try out new measures and policies in a limited scope first and improve and refine them once their consequences have become fully visible.

SCIENCE

This experimental approach is not only true for politics but can be found in the realm of science too. (Disclaimer: While the drawing of the sketchy graphics below is a crime solely committed by the author the main inspiration for them was provided in a class by ).

Mainstream rational science follows an approach similar to the rational understanding of politics. It develops abstract models of reality that lead to certain results and recommendations. These scientific results are then taken “across the border” to society and simply applied. If this treatment fails the model has to be refined or some equation adjusted. Then the procedure starts again.

Rational Science

 

An experimental approach towards science which is inspired by philosophical pragmatism rejects the dichotomy between science and society (as indicated by the solid line in the figure above) in the first place. As an philosophy which is characterised by a broad anti-dualism pragmatism sees science and society closely connected. Again we meet a deep appreciation for an experimental approach.

Pragmatist Science

Similar to the experimental understanding of politics pragmatist science proposes to develop scientific knowledge by engaging with human practice. Scientific insights ought not be developed in a different realm of society but can only foster human progress if they are linked to society and its practices in the first place.

To conclude with a prominent example: Education and how to improve it (especially its democratic character) was one of the prime topics of the writings of the pragmatist philosopher John Dewey. Still he didn’t stop there but founded the where the theoretical insights could be confronted with the idiosyncracies of social practice. It is this emphasis on practice and the rejection of a strict duality of science and society that defines pragmatist science.

Experimentelles Politikverständnis am Beispiel der Mariahilfer Straße

Im Interview mit dem STANDARD wurde Wiens Vizebürgermeisterin Maria Vassilakou : “Nach nicht einmal einer Woche werden monatelang erarbeitete Konzepte über Bord geworfen und es muss nachgebessert werden. Was ist bei der Planung schiefgelaufen?” Gemeint war dabei die neue Fußgänger- und Begegnungszone in der Mariahilfer Straße die in den letzten Wochen für einige Aufregung gesorgt hat.

Insbesondere die Tatsache dass teils improvisiert wirkende Lösungen umgesetzt wurden und es relativ rasch zu weiteren Adaptierungen kam, löste Kritik an dem vornehmlichen “” aus.

Von diesem parteipolitischen Hickhack und der Sommerlochdynamik abgesehen, ist es interessant sich anzusehen welches Politikverständnis hier zum Vorschein kommt. Politik wird verstanden als das Behandeln von Problemen über deren Lösung man im stillen Kämmerlein brütet, anschließend eine optimale Entscheidung trifft und diese dann in die “Realität” überträgt und umsetzt.

In diesem rationalen Politikverständnis gibt es nicht nur eine eindeutig beste Lösung, sondern diese kann auch abstrakt-gedanklich gewonnen werden. Funktioniert deren Umsetzung in der Praxis nicht geht es zurück an den Planungstisch und es wird nachjustiert.

Diesem geläufigen Politikverständnis, wie es im STANDARD-Interview und der parteipolitischen Kritik durchschimmert, kann ein experimentelles Politikverständnis gegenübergestellt werden. Es verwirft den simplen Gegensatz aus Planung – Umsetzung und verweist auf die Tatsache, dass Lösungen immer in der Praxis entstehen. Sie können nicht theoretisch durchkonstruiert und dann in die “Realität” implementiert werden.

Vielmehr muss von Anfang an ein experimenteller Weg gesucht werden der bereit ist Sachen auszuprobieren, Meinungen zu revidieren und ursprüngliche Maßnahmen zu adaptieren oder gar zurückzunehmen.

Klingt dieses experimentelle Politikverständnis der Sache nach gut und vernünftig, so hat es auch seine Schwachpunkte und Gefahren. Ein Beispiel aus dem Elfenbeinturm: Während eines Rational Choice Workshops an der University of Chicago ging es im Mai 2012 um die Frage ob die Auswahl von Organtransplantationen über Marktmechanismen geregelt werden sollte. argumentierte dagegen während sich die des Ökonomie-Departments vehement dafür aussprachen. Ein grantiger schlug schließlich vor es doch einfach in einem Bundesstaat auszuprobieren und einen Markt für Organe zu schaffen.

Zweifellos ein experimentelles Politikverständnis. Das aber auch bereit ist mit Menschenleben zu spielen und grundsätzliche ethische Einwände vom Tisch wischen kann.

Es ist dabei kein Zufall, dass Posner einer der bekanntesten Vertreter des ist. Immerhin ist es auch der amerikanische Pragmatismus in dessen Umfeld dieses experimentelle Politikverständnis entwickelt wurde. Mit als Urahnen und z.B. als aktuellen Vertretern.

Auf jeden Fall ist dieses experimentelle Politikverständnis ein Konzept das ernstzunehmen ist. Es besitzt das Potential undogmatische und demokratische Entscheidungsfindung zu ermöglichen, (männliches) Expertentum zu untergraben und das auszuhebeln. Das Beispiel Mariahilfer Straße zeigt das zumindest in Ansätzen.