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Beyer / Liebe (2010) “Antiamerikanismus und Antisemitismus”

“Der vorliegende Artikel befasst sich auf begrifflicher, theoretischer und empirischer Ebene mit Zusammenhängen zwischen antiamerikanischen und antisemitischen Ressentiments. Den begriffstheoretischen Ausgangspunkt bilden aus historischen Arbeiten destillierte gemeinsame Strukturprinzipien: Personifizierung von Modernisierungsfolgen, Manichäismus, Konstruktion eines identitären Kollektivs. Diese Strukturprinzipien gestatten es, etablierte Theorien des Antisemitismus auch auf den Antiamerikanismus anzuwenden. Auf der Basis einer kognitionspsychologischen Fundierung der Projektionsthese der Kritischen Theorie wird zum einen argumentiert, dass Antiamerikanismus (zusammen mit anderen Ressentiments) die psychische Funktion antisemitischer Einstellungen übernehmen kann, insbesondere bei der Kanalisierung von Unzufriedenheit mit gesellschaftlichen Verhältnissen (Projektionsverschiebung). Zum anderen spricht das Theorem der Kommunikationslatenz dafür, dass Antiamerikanismus als kommunikatives Vehikel antisemitischer Einstellungen auftreten kann (Umwegkommunikation). Beide theoretischen Zusammenhänge werden von einer exemplarischen empirischen Studie mit Querschnittsdaten gestützt, für die 241 Schülerinnen und Schüler aus Chemnitz, Dresden und Leipzig befragt wurden.” (Quelle: )

Beyer, Heiko / Liebe, Ulf (2010) ““, in: Zeitschrift für Soziologie (Jg.39,H.3/2010), Stuttgart, S. 215-232

Wie hat’s der Antisemitismus mit dir?

Replik auf einen Beitrag der Gruppe D-Day

In einem kürzlich veröffentlichten Text weist die Gruppe D-Day auf die politische Relevanz der Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus hin. So sehr das Grundmotiv dieser Intervention zu unterstützen ist – nämlich die beständige Erinnerung an diese Basis-Ideologie des modernen warenproduzierenden Patriarchats –, sollte die tatsächliche politische Umsetzung sich vor allzu einfachen Schlüssen verwahren. Ideologiekritik und Politik in eins zu setzen bekommt beiden nicht und läuft letztendlich Gefahr, in (beidseitige) dogmatische Erstarrungen zu verfallen.

 

Antisemitismus oder die Shoah?

Es steht zweifellos außer Frage, dass sich sowohl linke Politik als auch (theoretische) Ideologiekritik intensiv mit der Shoah als Ausformung eines modernen Vernichtungs-Antisemitismus auseinanderzusetzen haben. Dass dies in einem post-nazistischen Kontext umso mehr Not tut, ist ebenso evident. Wichtig ist es jedoch, nicht der Vorstellung eines absoluten „Zivilsationsbruchs“ zu verfallen, auch wenn dies ein oberflächlicher Blick auf die historischen „Fakten“ nahelegen mag. Es gilt festzuhalten, dass Antisemitismus auch schon vor Auschwitz integraler Teil der „Zivilisation“ war und insofern das historische Ereignis einen Vorlauf und natürlich auch eine Nachwirkung in der Entwicklung des warenproduzierenden Patriarchats bzw. seiner ideologischen Verarbeitungsformen hat. In diesem Sinne war die Tradition der Arbeiter_innenklasse auch schon vor dem NS nicht „unschuldig“, ebenso wie sie aber auch keineswegs auf antisemitische, völkische oder gar nationalsozialistische Momente reduziert werden sollte. Linke Bewegungen waren damals gespalten, emanzipatorische und ideologische Momente eng miteinander verwoben – genauso wie es heute noch der Fall ist.

 

Zwischen Ideologiekritik und der Kritik des Politikfetisches

Diese Spaltung ist jedoch nicht allein auf den Antisemitismus zurückzuführen, tatsächlich lässt sie sich generell nicht bloß ideologiekritisch verstehen. Vielmehr verweist sie auf die Basis fetischistischer Vergesellschaftung, aus der Ideologien überhaupt erst entstehen. Dieser Fetischismus wird gemeinhin v.a. auf „ökonomische“ Tatbestände zurückgeführt, wobei ein enger Zusammenhang zwischen dem Warenfetischismus und der antisemitischen Ideologie nicht zu leugnen ist. Die von Moishe Postone1 entwickelte These einer Ineinssetzung beider ist dabei jedoch zu kritisieren, da sie die ganze Tragweite des Problems fetischistischer Vergesellschaftung verkennt: der ökonomische Fetisch ist nur die Spitze eines Eisberges von Fetischismen, die – einer Logik der „Wert-Abspaltung“2 folgend – alle Sphären bürgerlicher Gesellschaft durchziehen. Erst aus diesem komplexen Modell lässt sich Ideologiekritik begründen. Dahingehend scheint es besonders relevant, auch die Politikform einer fetischkritischen Untersuchung zu unterziehen. Diese Perspektive nun führt uns eine innere Spaltung der Politikform vor Augen, die sich in aufeinander verwiesenen politisch-ideologischen (systemaffirmativen) und anti-politischen (systemnegierenden) Momenten artikuliert. Beide sind Teil „linker Praxis“ im weiteren Sinne und folglich ist sowohl die pure „nicht-ideologische“ politische Praxis, wie auch die nicht-politische, rein negierende Anti-Politik eine Illusion. So what? Ich will damit sagen, dass es auf die Vermittlung ankommt.

 

(Real)Politik oder Kritik?

Ich habe versucht zu zeigen, dass es in den vorherrschenden Verhältnissen keine Position außerhalb der Widersprüche gibt. Dies beständig für sich selbst in Anspruch zu nehmen war und ist wohl eines der größten (ideologischen) Probleme der Linken. Das bedeutet jedoch nicht, dass Widersprüche einfach hingenommen werden müssen – sie sollten beständig bearbeitet werden, wobei ihre verwiesenen Seiten anfangs durchaus in ihrer Trennung nachzuvollziehen sind und erst in Folge einer meta-kritischen Einordnung in den Modus ihrer fetischistischen Konstitution zusammenzudenken sind. Emanzipatorische Aufhebung des Bestehenden kann folglich nur in und durch die Politikform geschehen, ebenso, wie sie jene radikal zerstören muss. Dabei sollte jedoch der Maßstab stimmen: es macht wenig Sinn, von der eigenen anti-staatlichen Praxis unmittelbar auf die Abschaffung real existierender Staatlichkeit zu schließen, wie dies etwa plump-anarchistische Positionen gut heißen mögen. Tatsächlich würde der Wegfall von staatlicher Herrschaft – insbesondere jener Israels – im Status Quo den ideologisch verzerrten Praxen freien Lauf lassen und damit wohl in Barbarei münden. Das heißt jedoch nicht, dass eine radikal politikkritische Haltung nicht im Binnenraum von alternativen Praxen und der theoretischen Kritik weiterhin gefördert werden kann und muss.

Quasi im Umkehrschluss hierzu ist die Forderung einer „bedingungslosen Solidarität mit Israel“ kritisch zu betrachten: einerseits kann „(real)politisch“ und maßstabsgetreu gesagt werden, dass Israel (zum Glück) nicht auf die Solidarität versprengter Linksradikaler im deutschsprachigen Raum angewiesen ist, ja jene für die tatsächliche Sicherung der staatlichen Souveränität Israels keinerlei Rolle spielen (selbst wenn sie sich ihrerseits in die kärglichen Abgründe repräsentativ-politischer Lobbyarbeit begeben). „Politisch“ ist diese Solidarität also völlig wert- und sinnlos.
Andererseits lässt sich hinter der Forderung jedoch ein ideologiekritisches Ansinnen ausmachen, dass ich im Wesentlichen in der Kritik des sekundären und als Antizionismus versteckten Antisemitismus deuten würde. Dieses Motiv ist natürlich von großer Bedeutung, gerade für innerlinke Selbstkritik, denn bekanntlich sind jene Formen des Antisemitismus heute die den historischen Verhältnissen am meisten entsprechenden. Wie aber nun damit umgehen, in der politischen und (ideologie-)kritischen „Alltagspraxis“, v.a. jener des Antifaschismus?

 

Nicht wo du stehst zählt, sondern wie du dich verhältst

Der Fehlschluss liegt in der Ineinssetzung von Kritik der Motive des (linken) Antizionismus und der politischen Forderung nach einer „bedingungslosen Solidarität mit Israel“. Letztere hat mit der Kritik antisemitischer Ideologie nichts zu tun und stellt in Reinform jene falsche, verabsolutierende Kaschierung der politischen Formwidersprüche dar, die ich oben kurz zu skizzieren versucht habe. Es handelt sich dabei wie gezeigt um eine in der Binnenlogik des Politischen sinnlose Forderung. Im Gegenteil verbaut sie aber – auf Grund ihrer Maßstabsverfehlung – die Möglichkeiten realistischer emanzipatorischer Handlungen in der Politikform. Ein politisch-zielorientier Antifaschismus, wie er den gegebenen, sich beständig nach rechts verschiebenden Verhältnissen angemessen erscheint, wird somit verunmöglicht, da die Pluralität der politischen Praxisform „Antifaschismus“ (mitsamt ihrer je zu problematisierenden ideologischen Verwerfungen) in einem rein fiktiven und dogmatisierten politischen Postulat vereinheitlicht wird. „Politisch“ ist Antifaschismus hingegen dann, wenn er auch das Ziel im Auge behält – die Zurückdrängung faschistoider und revisionistischer Tendenzen im Hier und Jetzt.

Die Ineinssetzung dieses projektiven politischen Postulats mit der (Möglichkeit von) Ideologiekritik gefährdet jedoch auch letztere. Denn werden die Widersprüche innerhalb politischer Zusammenhänge derart vereinseitigt, so wird die Auseinandersetzung mit anderen Ideologien zwangsläufig unterprivilegiert. Schließlich wird dabei aber selbst noch antifaschistische Praxis stark eingeschränkt, da sich politisch artikulierende Intersektion verschiedener Ideologien unberücksichtigt bleibt: politische Faschisierung ist nicht auf Antisemitismus zu beschränken; und jener selbst ist mitunter nicht haarscharf von anderen Ideologien zu trennen. Dies ist durchaus auch angesichts der obigen Widerspruchskonstellation zu lesen: zuweilen kann antifaschistische Praxis in einem strikten Ausschlussverhältnis z.B. zu der Möglichkeit antisexistischer Praxis stehen, wenn es etwa um Gewalt und militantes Auftreten geht. Dieses Problem mag immanent nicht zu lösen sein; aber den Widerspruch reflektieren zu können, ihn nicht unbewusst zu halten und zu kaschieren, würde gesellschaftskritisch reflektierter Praxis zuträglich sein.

In diesem Sinne sollte der Grundanspruch antifaschistischer Praxis, wie ihn D-Day im Schlusssatz formuliert, modifiziert werden: Antifaschismus hat – zwangsläufig auch „politisch“ – gegen faschistoide Entwicklungen im warenproduzierenden Patriarchat zu kämpfen. Dies wird immer ein Abwehrkampf bleiben, da Tendenzen der Faschisierung u.a. in den vielfältigen Ideologemen der Moderne angelegt sind und beständig hervorzubrechen drohen. Dieser Abwehrkampf ist nicht zuletzt auch einer des Selbstschutzes und des Schutzes von unterprivilegierten, besonders von Gewalt und ideologischen Ausbrüchen bedrohten Gruppen. Dabei wird jedoch keine widerspruchslose, „ideologiefreie“ Position zu haben sein. Jene unmittelbaren Ziele politischer Praxis ohne wenn und aber auf dem Altar der „reinen (Ideologie-)Kritik“ zu opfern, ist unmenschlich und letztlich oft selbst ideologisch.
Die Aufgabe der Ideologiekritik ist es, Ideologien im breiteren gesellschaftlichen Kontext zu analysieren und auch in linken Bewegungen beständig zu skandalisieren. Der Widerspruch, der zwischen jener bedingungslosen Kritik und den Anforderungen politischer Praxen entstehen mag, ist als solcher zu bearbeiten, aber nicht endgültig lösbar. Die Metakritik fetischistischer Vergesellschaftung unter dem Vorzeichen der Wert-Abspaltung kann hier nur erklären, wie es zu dieser Widersprüchlichkeit kommt und die Grundlage für Ideologiekritik schaffen. Sie kann jedoch die Mühen der politischen Praxis nicht lösen, Kritik und Politik zusammenzupressen verbietet sich ihr. Erst wenn dies verstanden wird, wird ernstzunehmender Antifaschismus ebenso wie radikale Ideologiekritik möglich.

Postone, Moishe. 1993. Time, Labor and Social Domination: A Reinterpretation of Marx’s Critical Theory.New York and Cambridge Cambridge University Press

Scholz, Roswitha. 2000. Das Geschlecht des Kapitalismus. Feministische Theorien und die postmoderne Metamorphose des Patriarchats.Bad Honnef: Horlemann.

2 Unter „Wert-Abspaltung“ wird die Erweiterung der (Marxschen) Kritik der warenproduzierenden Gesellschaft um die Dimension des vergeschlechtlichen Anderen verstanden. Dies reflektiert u.a. Debatte um „weibliche“ Reproduktionsarbeit, bezieht sich aber auch auf kulturell-symbolische Formen des modernen Patriarchat. Sh. (Scholz 2000)  

Autor: Elmar Flatschart

Erschienen in Unique (11/2011).

Kleine Reflexion des Re-Thinking Marx Kongresses

Über Themenverfehlungen, die Wichtigkeit der Unterscheidung von Fetisch und Ideologie und die „Dialektik der Politik“

Autor: Elmar Flatschart

 

Zwischen akademischer Konferenz und Event

Vom 20.-22. Mai 2011 fand in Berlin die Konferenz „Re-Thinking Marx“ statt, die mit dem Anspruch auftrat, Marx nicht nur wieder ins Rampenlicht zu rücken, sondern ihn auch weiterzudenken. Aus der Perspektive des theoretischen Frameworks der Wert-Abspaltungskritik erscheint dies alles zuerst einmal vielversprechend (deswegen habe ich die Konferenz besucht). Zugleich muss dem Zweifel, ob der vielen gebrochenen Versprechen linker Theoriebildung, besonders ihrer akademischen Spielart, schlussendlich doch wieder ausreichend Raum gegeben werden. Ich möchte in einem kurzen (zweifellos selektiven) Bericht nicht nur meine Wahrnehmung der Ereignisse, sondern auch eine kurze Diskussion einiger der zentralen theoretischen Probleme darstellen.

Zuerst zum Setting: Die Konferenz wurde offensichtlich langfristig und professionell geplant. Dies äußerte sich nicht nur in der relativ reibungslosen Umsetzung, sondern auch bereits im „Line-Up“. Zahlreiche Berühmtheiten der akademischen Marx-Rezeption waren anwesend, etwa Wendy Brown, Etienne Balibar, Michael Heinrich, Alex Demirovic, Axel Honneth, Oliver Marchart und schließlich Moishe Postone; darüber hinaus auch einige dem Marxismus nahestehende Intellektuelle wie die Humangeographin Saskia Sassen und die post-koloniale Theoretikerin Christine Löw. Es war also nicht nur ein breites Spektrum der deutschen akademischen Linken anwesend, die Einladungspolitik ging bei weitem über die Sprachgrenzen hinaus. Besonders die englischsprachige Debatte und auch einige französische Positionen waren präsent, was durchaus zum Erkenntnisgewinn beitrug.

Die Berliner Philosophin Rahel Jaeggi trat als „graue Eminenz“ der Konferenz auf und hat offensichtlich auch bei der inhaltlichen Gestaltung der Konferenz viel zu sagen gehabt. Deutlich tritt dies erst im Nachhinein aus dem Programm hervor, da natürlich davor viele Namen und Positionen noch nicht bekannt erscheinen. Die Ausrichtung war eine ideologietheoretische/kritische, Themen wie Entfremdung und die Frage einer „humanistischen“ Lesart Marxens stellten einen deutlichen Schwerpunkt dar und nicht zuletzt war die Fraktion der mehr oder weniger von Hegel inspirierten Positionen über das sonst Gewohnte hinaus präsent.
Um die Atmosphäre etwas einzufangen: anwesend war ein sehr großes und unterschiedlich zusammengesetztes Publikum, darunter auch viele junge und „bunte“ Menschen. Dies trug zu einer angenehmen Stimmung bei, die zwischen intellektuellem Austausch, Kaffee-Kränzchen im selbstverwalteten Studi-Cafe und alternativem Kulturprogramm zwischen den Veranstaltungen insgesamt doch recht abwechslungsreich war. Der Eindruck war zeitweise mehr der einer großen Zusammenkunft der theoretisch interessierten jungen Linken ohne politisch-agitatorische Zwangsbeglückungen ebenso wie ohne klare Fraktionierungen. Natürlich waren auch die üblichen Alt-Linken vereinzelt auszumachen, etwa wenn honorige DDR-Marxisten (sic) auftraten und ihre „Wortbeiträge“ (vulgo Co-Referate) tatkräftig zu Ende geklatscht werden mussten.

Trotz dieses positiven Gesamteindrucks war eine Sache klar (darin drückt sich dann vielleicht doch noch eine heimliche Reminiszenz an die DDR-Linke aus): eine Grenze zwischen der „engagierten Masse“ und der „akademischen Elite“ wurde ganz deutlich gezogen. Die Hierarchie zwischen den einfachen BesucherInnen und dem Kreis der Vortragenden aufrecht zu halten, stellte offensichtlich ein organisatorisches Desiderat dar – die vorderen Plätze waren für die (Re-)PräsentantInnen reserviert, sie bekamen in den – außergewöhnlich knapp gehaltenen – Fragerunden mit dem Publikum das Mikro fast ausschließlich in die Hand, und auch das individuelle Distinktionsbedürfnis wurde durch hübsche Namenschilder und nicht zuletzt einen „VIP Bereich“ für die „richtigen“ TeilnehmerInnen bedient.

Ohnehin war der/die Vorstellende meist von sich aus durch das (den Außentemperaturen inadäquate) formell-zugeknöpfte Aussehen vom Rest zu unterscheiden. In diesen Zusammenhang passt natürlich die strukturell männliche Markierung dieser akademischen Form – es waren deutlich mehr Männer auf den diversen Podien (ausgenommen natürlich die „abgespaltenen“ Theoriemomente Gender&Co) vertreten, und noch viel deutlicher artikulierte sich der „male bias“ in dem anscheinend für Frauen nicht sehr einladenden Gesprächsklima – während des ganzen Kongresses konnte ich (abseits der Gender-Veranstaltung) eine Wortmeldung von einer Frau verzeichnen. Dies schien irgendwie niemanden zu stören, weder die weiblichen Referentinnen, noch die durchaus paritätisch anwesenden Frauen unter den Zuhörenden. Die meisten der Männer schienen mir ohnehin in distinkten Zirkeln anzutreffen zu sein, was wohl nicht nur mit der thematischen Segmentierung der Interessensschwerpunkte zusammenhängt, sondern recht gut die Struktur informeller akademischer Männerbünde widerspiegelt. Dies ist aber wohl nicht weiter verwunderlich, nicht zuletzt gibt es Ähnliches ja auch in nicht-akademischer kritischer Theoriebildung.

Zum Einstieg und den Themenverfehlungen

Den inhaltlichen Einstieg in die Konferenz machte eine Vorrede von Rahel Jaeggi. Obwohl sie die Relevanz einer (philosophischen) Auseinandersetzung mit Marx unabhängig von den jeweiligen gesellschaftlichen Konjunkturen hochhielt, konnte eins sich des Eindrucks nicht verwehren, dass sie die Aufbruchsstimmung durchaus nicht aus sich heraus begründet sah – die wiederentdeckte Relevanz von Marx angesichts der Krise wurde von ihr ebenso herausgestrichen wie auch eine (damit einhergehende) neue Unbefangenheit gelobt. „Re-Thinking Marx“ ist also durchaus etwas, das mit historischen Konjunkturen zu tun hat. Diese wichtige Einschätzung ist nicht nur für den spezifischen Event von Bedeutung – sie sollte alle kritische Theoriebildung zu verstärkter Anstrengung und neuen Versuchen der Zusammenarbeit veranlassen. Unmissverständlich kenntlich machte sie aber auch den wohl zentralen theoretischen Schwerpunkt dieser Konferenz, der nicht zuletzt mit dem Habermasianischen Bruch in der Kritischen Theorie zu tun hat (dazu mehr weiter unten): die Frage nach dem Verhältnis einer „sozialen“ und „normativen“ Kritik der Gesellschaft, letztlich der Skandalisierung von entweder Ausbeutung oder Entfremdung. Dies stellt zweifellos eine interessante und durchwegs pointierte Vorlage für eine Konferenz über Marx dar, die nicht zuletzt auch von der Widersprüchlichkeit der heutigen Rezeptionslinien weiß. Die Latte wurde also hochgelegt.

Wiewohl auf eine inhaltlich anspruchsvolle Debatte Wert gelegt wurde, gab es offensichtlich auch einige Themenverfehlungen, die ich gleich am Anfang abhandeln möchte. Am prominentesten war diese bei Saskia Sassen vorzufinden, die in ihrem „Dialog mit Marx“ nicht nur die Äußerlichkeit der eigenen Position von vorneherein akzentuierte, sondern auch bewies, dass sie tatsächlich sehr jenseits der Debatten ist – ihre Kritik an Marx traf dessen „Politik-Verständnis“ bzw. den Marxschen „Internationalismus“. In einer einzigartig einseitigen Lektüre Marxens – die Basis ihrer Auseinandersetzung stellte nach eigenen Angaben das „Kommunistische Manifest“ dar – schlitterte sie gänzlich an dem, was eine produktive Marx-Rezeption sein könnte, vorbei und beschränkte sich im Wesentlichen auf die rein phänomenologische und statische Feststellung, dass der Marx des Manifests das Politische, nämlich den National-Staat und seine Maßstäbe, nicht so verstand wie Sassen, welche in der heutigen Welt die Grenzen des Nationalen schwinden sieht. Unabhängig von dem analytischen Befund Sasssens hatte ihr Vortrag wenig mit Marx und noch weniger mit von Marx inspirierter Theorie zu tun.

Ähnlich enttäuschend war für mich nur noch der Beitrag Étienne Balibars. Sein Vortrag war wohl sicherlich von Marx inspiriert und verfehlte insofern das Thema (vielleicht) nicht. Es mochte mir jedoch – trotz großer Aufmerksamkeit und eifrigen Mitschreibens – nicht gelingen, den roten Faden zu entdecken bzw. die Quintessenz des Gesagten zu durchdringen. Dies mag an meiner mangelnden intellektuellen Fähigkeit liegen (rein sprachlich konnte ich folgen); jedenfalls aber blieb bei mir nur der Eindruck eines recht verwirrten Sammelsuriums aller möglichen angerissenen Aspekte rund um das Feld „Staat-Markt-Klasse“. Was einzig hängen blieb, war für mich das klare Bekenntnis zur Aktualität des Klassenthemas. Im Gang durch mannigfaltige post-politische, staatstheoretische und gar krisenphänomenologische Aspekte wollte Balibar die besondere Rolle des Klassenkampfes irgendwie doch noch retten. Trotz performativer Höchstleistung bei der Bedienung des Habitus-Typus „alter, eigensinniger und freundlicher Theoretiker“, die durchaus auch einige Sympathiepunkte einbringen mag – Balibar zeigte sich mit der „kämpfenden Jugend“ in Spanien solidarisch, wollte seinen Vortrag gern dort übertragen sehen – war der inhaltliche Ertrag für mich recht mager.

(Keine) Überraschungen mit und ohne Gender

Eine Überraschung stellte der Beitrag von Wendy Brown dar. Sie überzeugte mit einem profunden Bezug auf den „esoterischen“ Marx und versuchte Parallelen zwischen einer Kritik der Religion als Projektion sozialer Verhältnisse und der projektiven Dimension des Warenfetischismus auszumachen. Anders als viele andere Vortragende machte sie dabei den Unterschied zwischen Fetischkritik und dem bloß Ideologischen stark – während Ideologien falsche Vorstellungen sind, beruhen fetischistische Verhältnisse auf einer in den Naturverhältnissen begründeten Eigenlogik, welche Religions-ähnliche Projektionen produziert und die Unterscheidung zwischen analytischen und kritischen, physikalischen und theologischen Dimensionen aufnötigt. Einem positivistischen Verständnis einer „Greifbarkeit“ der Ware setzt Brown so von vorneherein die verdinglichte Dimension der sozialen Verhältnisse, die zur Ware führen, voraus. Für sie ist deshalb die religiöse Begrifflichkeit bei der Marxschen Beschreibung des Fetischismus nicht bloß Metaphorik, sondern stellt eine heuristische Notwendigkeit dar, um die anvisierten sozialen Verhältnisse fassen zu können. Zweifellos ist diese übermäßige Betonung des religiösen Charakters kapitalistischer Vergesellschaftung hinterfragbar. Dennoch scheint mir der Vorstoß in eine interessante Richtung zu gehen und z.B. gerade für die im EXIT ansatzweise geführte Debatte über „vormoderne (=religiös begründete) Fetischverhältnisse“ und das Verhältnis von Kapitalismus und Religion durchaus von Relevanz zu sein. Interessant war auch Browns spezifisch staatstheoretischer Zugang, der fetischismuskritisch fundiert sein will. Der Staat wurde von ihr wesentlich als Mystifikation menschlicher Souveränität erschlossen und somit als „otherwordly“ und imaginäre, letztlich entfremdete Form der Gemeinschaft kritisiert. Zu kritisieren wäre demnach schon die normative Idee einer ideellen Zentrierung der Souveränität in einem Zentrum. Hier verbleibt Brown zweifellos bei einer recht assoziativen, abgeleiteten Bestimmung des Staates, die schlussendlich selbst noch „ökonomistisch“ ist, insofern sie Momente des Warenfetisches recht unbedarft aufs Politische überträgt. Dennoch wäre auch hier ein näherer Blick auf das Werk Browns sicherlich gewinnbringend.

Auch die Gender-Frage selbst war natürlich mit einem eigenen Panel vertreten (umso weniger durchzog sie die allgemeine Diskussion). Die Veranstaltung erwies sich jedoch als weniger neu und apannend als meinerseits ursprünglich erhofft – jedenfalls wurde in keiner Weise die Höhe der marxo-feministischen Theoriebildung erreicht, welche vor dem „postmodern turn“ anzutreffen war.

Den Einstieg machte die englische Professorin Stevi Jackson. Sie vertritt nach eigener Aussage einen „materialistischen Feminismus“, der sich in Opposition zu „psychoanalytischen Differenz-Feminismen“ verortet, welche Jackson heute auf dem Vormarsch sieht. Der Vortrag bestand dann auch im Wesentlichen aus einer Rekapitulation des Entwicklungsweges jenes „materialistischen Feminismus“, der sich gewissermaßen zwischen marxistischen Feminismen und Differenzfeminismen positioniert. Stichwortgeberinnen sind neben Simone de Beauvoir v.a. die französische Schule um Monique Wittig und Christine Delphy. Die Position könnte ungefähr so zusammengefasst werden: Die Marxsche Werttheorie (etwa die Debatte um den Wert der Hausarbeit) interessiert nicht, weil zu „technisch“; es besteht folglich eine Distanz zu explizit marxistischen Feminismen; Fragen des allgemeinen Gesellschaftlichen interessieren weniger, Momente (politischer) Herrschafts- und Ungleichheitsachsen jedoch schon; die Abgrenzung vom postmodernen/poststrukturalistischen Feminismus wird gesucht, jedoch ergeben sich auch an einigen Punkten Schnittstellen; insbesondere Fragen der Bedeutung(-skonstruktion) und der Subjektivität sind von Relevanz. Diese Stellung einer doppelten Abgrenzung gegenüber marxistischen und differenzfeministischen Positionen war mir so nicht bekannt und ist in gewisser Weise instruktiv, v.a. angesichts der sarkastischen Nebenbemerkung Jacksons, dass zahlreiche der überzeugtesten Vertreterinnen einer „technischen“, marxistischen Position nach den Debatten der 1970er mit fliegenden Fahnen zum Poststrukturalismus wechselten. Interessant sind dabei v.a. die subjekttheoretischen Momente des präsentierten „materialistischen Feminismus“. Er hebt in radikaler Weise die soziale Konstruktion der Geschlechterbinarität hervor, ebenso wie die historische Relativität der Unterscheidung zwischen Homo- und Heterosexualität. Gleichermaßen wird aber auch die Materialität dieser sozialen Verhältnisse herausgestrichen, die – wie auch Klassenrelationen – eine starke Verharrungstendenz aufweisen. Über die gesellschaftstheoretische Begründung jener Beharrlichkeit sagte Jackson zwar erwartungsgemäß nichts, dennoch ist die Insistenz auf die hierarchische und materiale Struktur der sozialen Konstruktion von Geschlechtlichkeit, ebenso wie die Verbindung dieser mit der Dimension der Heterogeschlechtlichkeit durchaus erkenntisbringend. Anders als poststrukturalistische Ansätze, die sich auf die Tatsache der Differenz selbst und die bloße „Heteronormativität“ kaprizieren, wird so eine realistische Perspektive auf Gesellschaft ermöglicht, die Bedeutung, Subjektivität und das „Alltagsleben“ nicht auf das rein aktuale Performative reduziert. Auch wenn größere ideologiekritische Entwürfe wie etwa Wittigs Kritik eines „heterosexuellen Kontrakts“ letztlich begrenzte Heuristiken darstellen und nochmals gesellschaftstheoretisch geerdet werden müssten, stellen sie zweifellos eine gute Basis nicht nur für kritisch-dialektische Weiterentwicklungen, sondern auch eine Kritik poststrukturalistischer Positionen dar: denn wie Jackson glaubhaft machen konnte, basiert der Gender-Konstruktivismus Judith Butlers nicht nur stark auf einer Rezeption Wittigs und des französischen materialistischen Feminismus; Butlers Lesart ist selbst eine sehr einseitige und dekontextualisierte, was wiederum der auf sie aufbauenden Theoriebildung als ganzer vorgeworfen werden kann. Etwas lau war dann jedoch die Moral von der Geschicht – mit all ihrer materialistischen Kritik kommt Stevi Jackson schlussendlich doch wieder beim „Common Sense“ der neueren (halbwegs bodenständigen) feministischen Debatte an – es bedürfte einer „intersektionalen Analyse“, die sich zwar nicht nur auf Identitäten beschränken, sondern auch materielle Herrschaftsachsen in den Blick nehmen sollte; aber schlussendlich doch froh darüber sein kann, den Anspruch „totalisierender“ Großtheorien nicht mehr gerecht werden zu müssen. Paradoxerweise sollen also die Verwobenheiten von Herrschaftsmomenten materialistisch untersucht, dabei aber nicht „Alles“ erklärt werden. Das Resultat – der regelrechte Stolz auf Eklektizismus und „pragmatische“ Theoriebildung – kann leztlich also wenig überzeugen.
Mit Terrell Carver – dem einzig Mann auf dem Podium – ging es jedoch nicht unbedingt vielversprechender weiter. Carver ist offensichtlich ein passionierter Komiker, der sich gerne den Touch der Coolness eines verruchten Abenteurers gibt – sein Referatsduktus entsprach dem jedenfalls und ein solches Auftreten war ob der überwiegend weiblichen ZuhörerInnenschaft etwas peinlich. Auch die präsentierten Resultate einer „gendered Critique of Political Economy“ waren wenig mehr als amüsante Anekdoten. Der Bristoler Professor, der einschlägigerweise auf Hermeneutik spezialisiert ist, versuchte Marx so darzustellen, wie er „wirklich war“ und zwar „als Person“. Abgesehen von der etwas gewagten These, das Marx keineswegs Philosoph oder gar ökonomischen Theoretiker, sondern einzig und alleine „politisch motivierter Journalist“ war, gab der Vortrag wenig, was über ein Wiederkäuen von Altbackenem (die Reproduktionsperspektive kommt bei Marx nicht vor) und Absurdem („Aspekte wie die Sklaverei in der Familie und die Unterdrückung der Frau wurden von Marx ja doch, an einer Stelle auf Seite so und so im Kapital, erwähnt – zumindest ließe sich das so interpretieren…“) hinausginge. Im Ganzen konnte sich Carver nicht entscheiden, ob er Marx nun verteidigen oder anklagen wollte. Einzig seine über das eigentliche Thema hinausweisenden und anscheinend eigenen Arbeiten entnommenen sporadischen Bemerkungen über die „Männlichkeit der Ökonomie“ und damit einhergehende Effekte tönten potentiell interessant – für eine genauere Einschätzung waren sie jedoch tatsächlich zu dünn gesät.

Wirklich grässlich (oder unglaublich lächerlich) wurde es aber beim letzten Vortrag des Panels, der von zwei „feministischen Ökonominnen“ – gespaltene AutorInnen-Persönlichkeiten sind seit J.K. Gibson-Graham scheinbar schick geworden[1] – gemeinsam referiert wurde, Esra Erdem und Ceren Özselçuk. Beide standen auch inhaltlich nah bei der „poststrukturalistischen Ökonomiekritik“ des australischen Autorinnenkollektivs. Sie plädierten in einem bunten Sammelsurium aus wissenschaftskritischen, politischen, ökonomischen und subjekttheoretischen Momenten für eine epistemologische Neuorientierung in der Ökonomiekritik, die mit der „reflektiven, realistischen“ Position endlich bricht. Das Zauberwort war demnach Kontingenz, die überall gefunden werden sollte. Aus der Marxschen Theorie müsse demzufolge einfach das Programm einer „post-kapitalistischen Politik“ geschwurbelt werden, indem er auf „Differenz und Kontingenz“ (das reimt sich!) gelesen wird. In einem oberflächlichen Durchgang durch das Kapital, dessen Tiefe wohl von jedem/r TeilnehmerIn eines Marx-Lesekreises nach zwei bis drei Sitzungen übertroffen würde, kamen sie zu einem bahnbrechenden klassentheoretischen Schluss: „Klasse“ sollte nicht mehr nur durch die Augen des Kapitalismus gesehen werden. Denn eigentlich wird Klasse ja erst durch das marxistische Denken als solches konstruiert. Tatsächlich kann Klasse nie eine endgültige Gestalt gegeben werden, die „Kartographie der Klasse“ dient bloß als „Wegweiser“, um etwas ganz anders – nämlich die Klassendifferenz zu artikulieren. Klasse ist also nur eine „Technologie“, um unterschiedliche Klassenorganisationen zu untersuchen (sic!). Daraus folgt: es gibt auch „viele Ökonomien“, ökonomische Diversität ist ja schön und die Rede von einer „kapitalistischen Totalität“ ist ohnehin Schwachsinn, müsste wohl selbst noch – so könnte eins sie im Anschluss an andere poststrukturalistische Ansätze weiterdenken – als „epistemische Gewalt“ verstanden werden. Gewalttätig zumindest gegenüber einer „kontingenten, nicht-deterministischen“ Lesart des Kapitals. Gewagterweise brachten Özselçuk/Erdem dann doch noch eine allzu „deterministische Lesart“ ein, für die sie sich auch sogleich entschuldigten, nämlich folgende kongeniale Formel:

M – C …P … C’ – M’

M steht dabei für Markt, C für Kapital und P für Produktion. Was diese Formel abgesehen von einer „kontingenten“ Umdeutung Marxens genau bringen soll, konnten die Referentinnen nicht so recht vermitteln. Wofür sie steht (wenn eins dazu denkt, dass wohl auch hier alles mindestens einmal kontingent weiterinterpretiert werden muss), wurde jedoch verlautet: der Kreislauf des Kapitals ist keine unvermittelte, invariante Logik – er formuliert eine „Metamorphose des Kapitals“ (sic), bei der die Kreation des Werts niemals flüssig vonstattengeht, sondern „kontingent auf sozialen Technologien“ aufbaut. Es gibt also keine essentialistische Logik der kapitalistischen Reproduktion; nur Kontingenz. Und das Beste kommt zum Schluss: es gibt andere ökonomische Organisationsformen. Denn: die „Flüsse des Mehrwerts“ können ja auch different gelenkt werden, wenn nur die „Binarität zwischen dem Kapitalismus und seinem Äußeren“ destabilisiert würde. Bezeichnenderweise schloss der Vortrag mit einem Verweis auf Louis Althusser, dessen theoretische Innovation gegen den „marxistischen Feminismus“ und dessen zwar wichtiger (weil eine „autonome und andere“ Sphäre kreierenden), aber dann doch irgendwie langweiliger Perspektive auf die Hausarbeit lanciert wurde: Aus der kapitalistischen „Re-Reproduktion“ (sic) wird die Perspektive auf die „soziale Reproduktion“. Durch diese Perspektive selbst würde dann auch schon der „performative Akt“ der Fokusverschiebung auf die „imaginierte Welt“, die Utopie, welche eins sich wünscht, gesetzt – Politik machen, auf poststrukturalistisch, quasi! Wie das weiter aussehen kann, wurde dann als Antwort auf eine Frage aus dem Publikum an Hand eines enthusiastischen Beispiels verdeutlicht: Es gibt doch tatsächlich in den USA ein paar Firmen, die sich gemeinsam dazu entschlossen haben, einen Teil ihrer Profite für den Zweck der Schaffung von unabhängigen GenossInnenschaften zu spenden. Doch wer dies als die in den Vereinigten Staaten recht übliche Form der „Charity“ abzutun geneigt ist, hat das utopische Potential der Sache weit verfehlt: denn diese Firmen tun damit etwas, was in sich schon dem „kapitalozentrischen Imaginären“ widerspricht – sie nehmen einen Teil des Mehrwerts aus der „Metamorphose des Kapitalismus“ einfach so heraus! Das ist nun etwas völlig Neues und sollte endgültig allen eine Lehre erteilen, die die kapitalistische Reproduktion immer noch „deterministisch konstruieren“. Kein Kommentar…

Ein Kernproblem der Konferenz: Die Verhältnisbestimmung von Fetisch- und Ideologiekritik

Der wirklich substantielle Kern dieser Konferenz war also leider nicht in der feministischen Weiterentwicklung der Marxschen Theorie zu finden. Eine Annäherung an ihn kann jedoch in Abstoßung vom zweifellos sympathischsten Vortrag entwickelt werden, jenem von Moishe Postone. Herausragend war Postone nicht nur ob des Inhalts seines Vortrags – den Präliminarien einer fetischismuskritischen Perspektive auf die kapitalistische Totalität (dies kannte ich natürlich und muss ich hier wohl nicht weiter ausbreiten); sondern auch, da er trotz der grundsätzlichen Bekanntheit des Inhalts immer noch zu fesseln vermochte und nicht zuletzt auch eine probate, Unruhe stiftende diskursive Intervention in den „Common Sense“ der Konferenz hinbekam. Abgesehen von der deutlichen Kritik am Arbeiterbewegungsmarxismus bestach vor allem das klare Bekenntnis zur Fetischkritik und das Postulat, dass diese nicht auf Ideologiekritik reduzibel ist. Das Hervorkehren einer distinktiv negativen Dialektik, die eine Fokussierung auf den Prozess impliziert, war ein wichtiger wissenschaftstheoretischer Kontrapunkt zu den anderen Ansätzen, die mehr oder weniger statische Verständnisse vertraten (inklusive der durchaus anwesenden unmittelbar hegelianisch inspirierten Philosophen, welche ich hier nicht weiter erwähne). Dabei wurde durch Postone das „Andere“ implizit immer auch schon angesprochen – wenn auch natürlich nicht expliziert; eine gewisse ökonomistische Schlagseite wurde ihm schließlich auch schon von Seiten der EXIT-Position vorgeworfen. Auf jeden Fall liefert dies aber Ansätze für eine abspaltungskritische Revision. Ohnehin interessant und noch immer viel zu wenig aufgearbeitet bleibt die These der zwei Zeiten des Kapitalismus (konkrete und abstrakte), die ihrerseits noch einer abspaltungskritischen Interpretation harren würde. Die Kontakte nach Chicago zu stärken – was ich leider in Anbetracht des doch sehr honorig-professoralen Auftreten Postones versäumte – lohnt für das Projekt kritisch-dialektischer Theorie also jedenfalls.

Nicht nur theoretisch, sondern auch in Form von recht direkten Angriffen grenzte sich der erklärte Buhmann des Kongresses, Axel Honneth deutlich von seinem Podiums-Genossen Postone ab. Er steht aber gewissermaßen auch für den „heimlichen Konsens“ einer Konferenz, die auf den ersten Blick in erfreulicher Weise einen Kontrapunkt zu den hegemonialen akademischen Debatten setzte, die allzu weit weg sind von Themen wie „Ideologie“, „Entfremdung“, „Verdinglichung“, „Dialektik“ und den Fragen des Hegelianischen Erbes bei Marx. Honneths Beitrag titelte bezeichnenderweise „Die Moral im Kapital“ (auch das reimt sich, offensichtlich hatte Pumuckel unrecht) und hätte eigentlich eher „Die Moral gegen das ‚Kapital‘“ oder vielleicht auch „Mit Moral zum Kapital“ heißen müssen. Es ging ihm nämlich um einen ganz bestimmten, nein nicht den epistemologischen, Bruch im Marxschen Werk, den der „Westliche Marxismus“ vermeintlich ans Tageslicht gebracht habe – die Unterscheidung zwischen den moralischen Absichten kollektiver AkteurInnen und der „ökonomischen Funktionsimperative“. Für Honneth steht hinter dieser Unterscheidung nicht nur der Gegensatz zweier Handlungslogiken, er ermöglich auch gänzlich andere theoretische Grundannahmen als jene des „ökonomiekritischen Marx“. Diese wiederum lägen in der „normativen Konfliktualität allen Sozialens“ begründet und äußerten sich in spezifischen historischen Vorgängen. Dahinter stünde die unterschiedliche Temporalität des Ökonomischen und des Moralischen, eine prozesshafte auf der einen und eine ereignishafte auf der anderen Seite, eine schlussendlich synchrone versus eine in sich diachrone Zeitlichkeit. Im 18. Brumaire des Louis Bonaparte und den Schriften über den Bürgerkrieg in Frankreich will Honneth auch bei Marx Spuren des Nicht-Ökonomischen entdeckt haben – hier würden plötzlich nicht mehr nur Charaktermasken, sondern „normative AkteurInnen“ in „politischen Kämpfen“ herumlaufen. Durch die politische Konfliktualität um die Setzung der akzeptierten Normen bewiese die Geschichte der ArbeiterInnenbewegung selbst die ereignishafte Seite historischer Prozesse, in der sich auch Bedeutungen in Abhängigkeit voneinander ändern könnten. Demgegenüber wären die historisch-politischen Kapitel des Kapitals linear aufgebaut und durch von vorneherein vereinheitlichte Interessen geprägt, die sich im Wesentlichen auf die zwei Kollektivsubjekte „Kapital“ und „Proletariat“ beschränken.

Im zweiten Teil seines Vortrags träumt Honneth davon, was wäre, wenn Marx auch im Kapital den „Einsichten seiner historisch-politischen Schriften“ gefolgt wäre. Er begreift das Kapital nämlich bloß als eine kritische Darstellung der herrschenden Nationalökonomie und ihres „Nutzenkalküls“, die um eine Politisierung und Soziologisierung ergänzt werden müsste. Es geht also – und hier begann Honneth endgültig, sich immer und immer zu wiederholen – um die „normative Konfliktualität“, die selbst noch das Kapitalverhältnis durchzieht. Der „utilitaristische Begriff des ökonomischen Akteurs“ müsste also so uminterpretiert werden, dass er selbst die eigenen Interessen nur in Form von Normen umsetzen kann und hier folglich schlussendlich keine Einheitlichkeit mehr vorherrschen kann. Recht sprunghaft wird das dann mit Rekurs auf ein seinerseits eigentlich recht „ökonomisches“ Paradigma, die institutionalistische Perspektive auf die „varities of capitalism“ (vulgo „rheinischer Kapitalismus vs. angelsächsischer) begründet. Es gibt also nicht den Kapitalismus, darum bräuchte es eine „Einsicht in die normative Plastizität wirtschaftlicher Interessen“ (sic). Natürlich, so Honneth, dürfte die „synchrone Temporalität“ des Verwertungszwangs nicht gänzlich vergessen werden. Welche Rolle sie in einer „soziologisierten Kapitalismusanalyse“ spielen soll, wenn es „ebensoviele Akteursgruppen wie normative Einstellungen“ gibt, bleibt jedoch offen. Die folgenden, beinahe revolutionistischen Verweise auf die Möglichkeiten, wie Randerscheinungen zu historischen Ereignissen werden können, sollten wohl davon ablenken. Ob die genannten „Konsumgenossenschaften“ das beste Beispiel für die Veränderbarkeit von Strukturen sind, sei dahingestellt (als Österreicher muss ich instinktiv an „Raiffeisen“ denken). Viel interessanter war jedoch die weitere Argumentation im Kreuzzug gegen die Vorstellung einer kapitalistischen „Rationalität“. Denn der gute Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung hat offensichtlich seine Hausaufgaben gemacht und die Fahne nach dem Wind gerichtet, denn er kam – oh Wunder – auf die „Kräftekonstellationen“ zu sprechen, die hier weiter eine Rolle spielen würden. Die Kräfteverhältnisse von Gruppen würden sich demnach dauernd ändern, und es bedürfe deshalb einer „Situationsanalyse“, in die auch die „moralisch-kulturelle Gesamtstimmung“ miteinbezogen werden müsste. Worauf das hinausläuft mag nicht mehr verwundern – auch aus Frankfurt wird Antonio Gramsci angerufen und mit ihm die Notwendigkeit „soziologischer Analysen“ des „spezifisch historischen Ereignisses“ eingeklagt. Natürlich sind dann alle Auseinandersetzungen komplex, und vieles spricht gegen eine „Subsumption unter das Kapital“. Die Moral sei es, die nötig wäre, um den Kampf um den Kapitalismus (sic) möglich zu machen. Wer das anerkennt, kann auch die Spannungen im Markt sichtbar machen und sehen, dass es keine normativen Schließungen gibt – auch nicht im Kampf um die Länge des Arbeitstags.

Also – weg mit der „Hegelschen Geschichtsphilosophie“, der „linearen Entwicklung“, denn die ist bloße „praktische Selbsteinschüchterung“. Was wir brauchen ist eine „theoretische Verabschiedung der Kritik der Politischen Ökonomie“ (sic). Stattdessen muss der „normative Einwurf“her, der die ökonomische Rationalität übertüncht. Klar wird natürlich allen sein, dass es neben den Bewegungen immer auch „Gegenbewegungen“ gibt… Aber im Büro des Institutsdirektors interessiert das natürlich nur insoweit, als er den finalen guten Rat gibt, angesichts all der Komplexität besser an die politisch-historischen Schriften anzuschließen. Recht einig war er sich dann auch mit seinem Nachredner, dem englischen Professor für politische Theorie Russell Keith, der sich – auf ähnlich normativistischer Basis – für die Unmöglichkeit einer nicht-marktwirtschaftlichen Gesellschaft aussprach (weshalb er die „soziale Marktwirtschaft“ gegen den „Kapitalismus“ stark machte), sich aber sehr wohl einen „normativen Marktsozialismus“ ohne „Entfremdung und abstrakte Arbeit“ vorstellen konnte.

In Form eines recht einfach gestrickten, selbst noch politischen Programms, das sich hinter dem vermeintlich theoretischen Bezug auf Marx versteckt, bietet Axel Honneth mit seinem Vortrag (der übrigens auch in der nachfolgenden Podiumsdiskussion noch zu – den Maßstäben der akademischen Etikette nach – teils scharfen Einwürfen gegen Moishe Postone führte) einen guten Überblick über den Grundkonflikt, der mir nicht nur den Re-Thinking Marx Kongress, sondern auch einen guten Teil der theoretischen Debatte der sich auf Marx beziehenden Linken zu durchziehen scheint. Es geht um die Henne-Ei-Frage, die Priorität des „Politischen“ vor dem „Ökonomischen“. Die offensichtlich reformistisch-sozialdemokratische und insgesamt recht widerliche Raison, die sich aus Honneths Ausführungen ergibt, stellt hier jedoch nur die Spitze des Eisberges dar, und der gesamte Brocken kann nicht einfach mit Verweis auf diesen Spitz abgetan werden. Dies verdeutlichte die streckenweise viel ambivalentere Argumentation der „dritten Generation“ der letztlich auf Habermas zurückgehenden Tradition der Frankfurter Schule. Vertreten war diese Generation, mit der nicht zuletzt auch Rahel Jaeggi in gewisser theoretischer Verbindung stehen dürfte, etwa im Panel „Ideologie, Entfremdung und Verdinglichung“. Vorherrschend war hier ein Typus des straighten, nüchternen und überszientifischen (präzisionsfetischistischen) Akademikers im Nadelstreif, der auch theoretisch zumindest „komplex“ argumentiert – komplexer als der recht offensichtlich agitatorische Honneth. Demgegenüber wirkt die akademische „Polit-Linke“ um Gramsci um vieles sympathischer und einschätzbarer. Eine inhaltliche Richtschnur, auf die ich nun näher eingehen möchte, bietet dahingehend der Vortrag von Titus Stahl, der zum vielsagenden Titel „Ideologiekritik als Kritik sozialer Praxis“ sprach.

Stahls dichter Vortrag behandelte im Wesentlichen ein Grundproblem der Beschäftigung mit Ideologie, das bereits in der Definition des Worts ausgemacht werden kann. Unter Ideologie wird in der kritischen Debatte für gewöhnlich die Vorstellung von „notwendig falschem Bewusstsein“ verstanden. Dies impliziert zwei Momente: Einerseits ist das Bewusstsein falsch, was die Doppelbedeutung einer wahrheitsmäßigen (analytische Dimension) und einer moralischen (normative Dimension) Negation zulässt. Gemeinhin wird hier in der marxistischen Debatte nicht so genau unterschieden, jedoch dominiert wohl eine Vorstellung, bei der die Falschheit im Sinne der mangelhaften Wiedergabe der Realität dominiert. Das typische Beispiel des „Pfaffenbetrugs“ verdeutlicht dies: Eigentlich wird gesagt, dass die Herrschenden die „wirklichen Verhältnisse“ verschleiern; es geht also in erster Linie um die Ausweisung der Falschheit der inkriminierten Argumentation. Dabei schwingt jedoch implizit, gewissermaßen performativ, auch immer bereits die moralische Anklage mit, dass die „Falschheit“ auch darin besteht, dass die Herrschenden durch die Produktion dieser Illusionen besser ausbeuten können o.ä. Diese mangelnde Präzision in der Definition der Falschheit stellt selbst noch ein Problem dar. Andererseits ist das Bewusstsein aber auch notwendig, d.h. es geht unmittelbar und gewissermaßen zwingend aus den sozialen Verhältnissen (sozialtheoretische Dimension) hervor. Jene erklärende Perspektive macht die Skandalisierung des „Pfaffenbetrugs“ eigentlich erst wirklich aussagekräftig, denn ohne die Sedimentierung einer breiteren Explikation des Kontextes, in dem der Betrug stattfindet, wäre dieser weder intelligibel noch die skandalöse (normative) Dimension ausweisbar.

Nun werden diese Dimensionen praktisch zwar zusammengedacht, theoretisch jedoch als zumindest potentiell trennbare erachtet. Ideologiekritik und Ideologietheorie werden als unterscheidbare Seiten betrachtet. Dies führt jedoch zu einer Schwierigkeit, die gewissermaßen einen performativen Selbstwiderspruch produziert, der das Konzept der Ideologie selbst hintertreibt: wenn davon ausgegangen wird, dass das Bewusstsein falsch ist, dann müsste es eigentlich ausreichen, diese Falschheit auszuweisen und ihr das Richtige (egal ob in normativer oder analytischer Dimension) entgegenzusetzen. Die Falschheit müsste in sich begründet sein. Wenn ein Bewusstsein falsch ist, dann ist es eben unrichtig, unabhängig davon, wo oder wie es auftritt. Die Konsequenz wäre aber, dass der Begriff Ideologie obsolet würde und sich einfach durch „falsche Aussage“ ersetzen ließe. Rein kognitiv wäre nicht zu entscheiden zwischen diesem oder jenem „falschen Bewusstsein“, es ließe sich also nicht argumentieren, warum „1+1=3“ eine andere Qualität der „Falschheit“ aufweisen sollte als die Aussage „die Ware Arbeitskraft ist das gleiche wie Arbeit“. Umgekehrt ist jedoch auch das Thema der sozialtheoretischen Begründung der Ideologie ähnlich verfänglich. Soll davon ausgegangen werden, dass Ideologie sich aus den historischen Verhältnissen erklären lässt, aus ihnen tatsächlich notwendig hervorgeht, bleibt zu fragen: Was unterscheidet Ideologie dann von anderen Bewusstseinsformen, die, materialistisch gedacht, ja stets aus den gesellschaftlichen Verhältnissen hervorgehen? Wie lässt sich hier eine (Dis-)Qualifikation als „falsch“ begründen, die Ideologie von anderen gesellschaftlich bedingten ideellen Emanationen unterscheidet? Schlussendlich gar nicht.

Mit dem ersten Problem sind klassischerweise Arten der Ideologietheorie konfrontiert, die sich v.a. auf die kognitiv-epistemischen Momenten des Ideologischen beziehen. Am prominentesten ist hier sicher die althusserianische Schule. Das zweite Problem trifft v.a. VertreterInnen einer Ideologiekritik, die „materielle Ideologien“ wie Verdinglichung und Entfremdung, aber oft auch ein bestimmtes Verständnis von Fetischismus stark machen.

Titus Stahl gehört zweifellos zur zweiten Gruppe, jedoch ist die Sache nicht so einfach. Denn Stahl sieht die obige Problematik durchaus, was sich auch in seinem Vortrag wiederfand. Er stellt sich eben die Frage, wie Ideologiekritik als nicht-epistemische Kritik möglich ist, wie also der nicht rein wissenschaftliche Status der Ideologie als nur im Kontext der sozialen Realität verstehbare, aber dennoch auch das kognitivistisch-wissenschaftliche Momente der Falschheit implizierende Instanz möglich ist. Er kritisiert dabei sowohl die Illusion einer explanatorischen Autarkie des Geistigen, wie sie etwa bei Marx und Engels noch in der Deutschen Ideologie vorzufinden ist. Gleichzeitig erkennt er jedoch auch, dass es sich doch gewissermaßen um „Überzeugungen zweiter Ordnung“ über den Status des Geistigen handelt, wir es indessen dennoch bis zu einem gewissen Grad mit einer „Struktur unserer kognitiven Vorstellungen“ zu tun haben. Auf diese Weise präzisiert er als seine These über den nicht-epistemischen Charakter der Ideologiekritik folgendermaßen:

„Ideologiekritik ist eine Kritik der reflexiven Struktur des kognitiven Verhältnisses von Individuen zur (gesellschaftlichen) Realität, die sich nicht primär auf epistemische Normen stützt.“

Er entscheidet sich also für die Ideologiekritik vermeintlich materialistischer Facon und gegen eine bloß epistemische Ideologietheorie, führt jedoch den „Vermittlungsschritt“ des kognitiven Verhältnisses der Einzelnen zu dieser Realität ein. Dies erscheint nun alles recht plausibel, denn tatsächlich geht es beim „falschen Bewusstsein“ um „reflexive Formen“ (die Sperrigkeit der Begriffe sollte nicht über den sehr grundlegenden Charakter der Problematik hinwegtäuschen, hier tritt das Problem des akademischen Selbstzwecks klausulierter Formulierungen zu Tage); auch macht es offensichtlich Sinn, diese nicht auf epistemische Normen zu reduzieren, will eins der oben skizzierten Widerspruchskonstellation entgehen. Dies führt nun dazu, dass sich Stahl aber auch zur Frage der materiellen Gestalt der Realität selbst äußern muss, und er stellt hier die These auf, dass Ideologie eben nicht „rein kognitiv“ falsch wäre, sondern vielmehr der „angemessene Ausdruck einer falschen Realität“ wäre. Was hiermit aber gemeint ist – und dies sagt der Referent auch so – ist der spezifische Fetischcharakter der gesellschaftlichen Verhältnisse. Es scheint nicht nur so, als ob Geld eine materielle Instanz ist, sie ist es in dieser Gesellschaft tatsächlich. Eine Kritik über ideologische Vorstellungen über das Geld (etwa eine strukturell antisemitische Zinskritik) verweist so immer automatisch auf diese Dimension der Gesellschaftskritik. Die grundlegende Frage ist jedoch, ob Ideologiekritik das gleiche ist wie Fetischkritik bzw. Gesellschaftskritik. Stahl plädiert dafür und verknüpft diese Vorstellung von materialistischer Kritik mit einem „nicht-expressivistischen“ Verständnis des Verhältnisses Realität-Bewusstsein (der „Angemessenheit des Ausdrucks“) und einer Lokalisierung des Ideologischen nicht im „(wahrheitsmäßigen) Gehalt, sondern der Form des kognitiven Zustands“. Auch dies mag nun zuerst einmal interessant tönen, geht es doch auch der Fetischkritik um eine Kritik von real-abstrakten Formen, die Tätigkeiten und Denken zugrunde liegen. Die Schwierigkeit liegt aber im Detail, nämlich wie diese Kritik der Formen verstanden wird. Hier findet sich auch der entscheidende, aufs Ganze gehende Abstoßungspunkt der Stahl’schen Argumentation von einer wert-abspaltungskritischen. Denn im weiteren Vortrag wird mit dem Problem der Vermittlung von Gehalt und Form in zweierlei Weise umgegangen: einerseits wird die Bestimmung der materialen Realität als „szientifisches Problem“, also als eines der letztlich wahrheitsmäßigen Korrespondenz definiert; andererseits wird ein Begriff sozialer Praxis schlechthin eingeführt, der sie als „Zusammenhang menschlichen Handelns, der durch normative Standards der Richtigkeit intern strukturiert wird“ definiert. Die Fokussierung auf die Form, die vom Inhalt abstrahiert, und eine allgemeine sozialontologische Vorstellung von Praxis als „normorientierter“ ermöglichen nun eine gänzlich differente Weiterentwicklung auf Basis der bisherigen Prämissen, die noch sehr progressiv gewirkt haben mögen. Denn die Falschheit der Verhältnisse ist nun nicht mehr inhaltlich zu explizieren; sie ist auch keine der Inkohärenz (das kognitive Moment der Ideologietheorie wird also eigentlich völlig abgekappt). Sie ist nur noch in Bezug zu setzen zu den (stillschweigend als ontologische Konstante eingeführten) „internen Standards von Praktiken“ schlechthin. Aus der „ersten und zweiten Natur“ gesellschaftlicher Verhältnisse im Anschluss an eine Fetischkritik werden dann die „erste und zweite Ordnung von praxiskonstitutiven Unterscheidungen“ sozialer Handlung, die wiederum intrinsisch mit einem spezifischen, praxistheoretischen Ideologiebegriff verknüpft sind, nämlich dem folgenden: „Ein kognitives Phänomen ist genau dann ideologisch, wenn es nur in einem Vokabular rekonstruiert werden kann, das konstitutive Unterscheidungen einer Praxis explizit macht, deren Regeln es nicht erlauben, sie als praktisch konstituierte Unterscheidungen zu behandeln.“ Dies mag nun recht sperrig erscheinen, aber im Grunde zielt es darauf ab, dass es gewisse in sich falsche Handlungsformen geben muss, die durch richtige zu ersetzen sind. Hier taucht recht unverblümt wieder die Habermasianische Vorstellung eines „richtigen“ Kommunikativen Handelns auf, welches die „Zweckrationalität“ der kapitalistischen Verhältnisse bloß ergänzen müsste. Das Perfide des präsentierten ideologiekritischen Ansatzes ist nun, dass es diese Zweckrationalität zwar als falsch darstellt, jedoch nicht ausweist, dass hier eigentlich keine kategoriale, sondern bloß eine immanente Kritik angestrebt wird. Die herrschenden Verhältnisse werden nicht als solche kritisiert, sondern nur für ihren uneingelösten „konstitutiven Anspruch auf Transparenz und Autonomie“. Rationalisierung ist so aber eigentlich nicht mehr der Form selbst nach problematisch, sondern nur der fehlenden (kommunikativen) Ergänzung dieser Form. Jener Schritt wird meist nicht deutlich genug gemacht, weshalb auch die Rede von Fetisch, Entfremdung und Verdinglichung beirren mag. Mit Rückgriff auf die „Basis“ der älteren Frankfurter Schule ließe sich die Sache etwa so deuten, dass die Identitätslogik des Tausches nicht selbst das Problem ist, sondern nur ihre mangelnde politisch-kommunikative Verhandelbarkeit.

Horkheimer und Adorno betrachten hingegen diese Bewußtseinsstrukturen, also das, was sie subjektive Vernunft und identifizierendes Denken nennen, als grundlegend; die Tauschabstraktion ist lediglich die historische Gestalt, in der das identifizierende Denken seine welthistorische Wirkung entfaltet und die Verkehrsformen der kapitalistischen Gesellschaft bestimmt. Die gelegentlichen Hinweise auf die in Tauschverhältnissen objektiv gewordenen Realabstraktionen können nicht darüber hinwegtäuschen, daß Horkheimer und Adorno keineswegs wie Lukács (und Sohn-Rethel) die Denkform aus der Warenform ableiten.“ (Habermas 1982, 506)

Es verwundert nach dieser, wie Habermas selbst sagt, „idealistischen Rückübersetzung“ (Habermas 1982, 507) nicht mehr, dass Ideologie und Fetischkonstitution in eins gesetzt werden. Denn es gibt schlicht nur noch das idealistische Moment, jegliche materialistische Basis wird entweder der „positiven Wissenschaft“ zugeschlagen oder eben auf „instrumentelle Rationalität“ reduziert. Angesichts dieser Konstruktion erscheint es ganz notwendig, dass das Ideologie-Problem aufhört, eines des Verhältnisses von Ideellem und Materiellem zu sein – es wird ja von vorneherein gesetzt, dass insgesamt nur das Ideelle relevant ist! Ideologische Praktiken werden somit deshalb falsch, weil sie die „Verletzung interner Standards von Praktiken (schlechthin)“ sind. Somit kann eins wiederum recht gemütlich konzedieren, dass Ideologie „nie überhistorisch falsch ist“ und in Wahrheit ein „politisches Problem für rationale Wesen“ ist. Womit wir wieder bei Gramsci & Co angelangt wären[2]… Diese Argumentation ist aber auch in sich löchrig, denn was nicht wirklich erklärt wird – aber bei der Bestimmung und Berechtigung von Ideologie als solcher von erstem Rang ist – ist eben das Verhältnis von Bewusstsein und Handeln. Habermas setzt dies in seinem Konzept des „kommunikativen Handelns“ krude in eins. Ebenso folgelogisch muss dann auch Ideologie- und Fetischkritik zusammenfallen. In diesem Schritt liegt aber nicht nur eine idealistische Verschiebung weg vom Gegenstand Gesellschaft selbst (der einer „neutralen“ szientifischen Analyse überlassen wird) begründet; es wird auch das Problem der widersprüchlichen Bestimmung von Ideologie nur deshalb umschifft, weil eine (nicht mehr begründete) ontologische Instanz – das „richtige“ kommunikative Handeln – eingesetzt wird. Der Ideologiebegriff wird damit aber in Wirklichkeit nicht nur entschärft (weil eingeengt auf eine ganz bestimmte, tendenziell sprach- und sprachhandlungstheoretische Problematik); er wird auch seiner in sich widersprüchlichen Determination beraubt. Um dies zu konstatieren und den präsentierten Vorschlag einer Ideologiekritik als unkritisch zu diskreditieren müsste also noch nicht einmal die völlige Falschheit aller Habermas‘schen sozialontologischen Annahmen über menschliche Kommunikation bewiesen werden; es reicht aus, zu zeigen, dass diese Regeln nur auf einer gewissen Ebene der Argumentation eine Rolle spielen, die jedoch ob der spezifisch-gesellschaftstheoretischen Theoretisierung der bestimmten historischen Widersprüche des „automatischen Subjekts“ des warenproduzierenden Patriarchats völlig in den Hintergrund tritt. Zugespitzt ließe sich sagen, dass gerade weil Ideologien als materialisierte „falsche Bewusstseinsformen“ mehr sind als Inkongruenzen auf einer bloß individuell-abstrakten Handlungsebene, weil sie von einer nicht bloß kognitiven Rationalisierungstendenz, sondern der faktischen „irrationalen Rationalität“ der Wertverwertung und ihrer permanenten Abspaltung geprägt sind, lässt sich diese kommunikationstheoretische Perspektive als nachgeordnete Problematik betrachten.

Demgegenüber müsste ein wirklich dialektischer, negativer Zugang zur Ideologiefrage (den ich ansatzweise doch auch einer „materialistischen Rückübersetzung“ Adornos und Horkheimers anheimstellen würde) den von Stahl eingangs aufgemachten immanenten Widerspruch nicht nur ernst nehmen, sondern ihn als bestimmendes Moment der Ideologiedefinition selbst betrachten. Bestimmend heißt jedoch nicht, „schon von vorneherein bestimmt“. Der Kern der Ideologie ist ihre widersprüchliche Zwischenstellung zwischen kognitiver und sozialtheoretischer Dimension, um mit den Worten der Habermas-Schule zu sprechen. Diese Widersprüchlichkeit ist jedoch keine überhistorische und auch keine bloß ideelle, sondern eine immer schon gesellschaftlich induzierte, die auf eine materiale „Handlungslogik“ verweist, welche sich ihrerseits nicht bloß abstrakt-individuell definieren lässt, sondern eben nur im Verhältnis zu einer sozio-strukturellen Ebene, wie das Konzept der Realabstraktion nahelegt. Die gesellschaftsbestimmende Fetischkonstellation findet sich dann in der Widersprüchlichkeit des Ideologischen wieder, dessen Eigenschaften jedoch auch nicht einfach auf die Determination durch den Fetischismus zu reduzieren sind. Ideologie ist eben auch nicht von der anderen, „materialistischen“, Seite her reduzibel auf den Fetisch, wie es bei Lukács tendenziell der Fall war. Dies würde tatsächlich eine „ökonomistische“ Reduktion von Ideologie bedeuten, die nicht zuletzt auch von vorneherein blind wäre für Aspekte der Abspaltung und der daraus folgenden gebrochenen, letztlich nicht auf eine (einwertige) „Kernstruktur“ reduzierbare Vorstellung des Ideologischen. Es handelt sich bei Ideologie und Fetisch folglich um distinkte Momente mit unterschiedlicher kausaler Wirksamkeit im Sinne der gesellschaftlichen Konstituierung. Ideologisches ist nicht einfach aus den konstitutiven fetischistischen Verhältnissen „abzuleiten“; es wird jedoch durch diese determiniert und selbst noch von der fetischistischen Logik als Widerspruchs-generierende-Formlogik durchzogen[3]. Diese Art dialektischen Denkens fällt schwer, da sie die Grenzen formaler Kausalbeziehungen sprengt. Der immanente Widerspruch des Ideologiebegriffs ist aber gerade seine produktivste und spezifische Erkenntnis generierende Eigenschaft. Er ist es auch, der letztlich eine tatsächlich distinkte Bestimmung von Ideologie möglich macht. Während das, was unter Fetischismus verhandelt wird, freilich nicht ohne kognitiv-bewusstseinsmäßige Aspekte auskommt, steht es für eine materiale, zwar historisch emanierte, aber dennoch absolut rigide Vorgabe aller gesellschaftlichen Interaktion. Ideologie ist umgekehrt nicht bloßes „Bewusstsein“, denn sonst ließe sich die Problematik ja tatsächlich kognitiv-formallogisch, im Sinne einer szientifischen „Falschheit“ abhandeln. Sie steht jedoch für die variableren, prinzipiell sich auch im herrschenden System verändernden diskursiv konstituierten Handlungsmatrizen – wenn eins Foucault’sche Terminologie bedienen will: „Dispositive“ – die eher einer bewusstseinsmäßigen Bestimmung naheliegen.

Dies sind freilich nur Fragmente einer wert-abspaltungskritischen Ideologiekritik. Gezeigt werden sollte damit v.a., wie wichtig es ist, auf die Notwendigkeit einer Trennung von Fetischismus und Ideologie zu pochen. Darauf hat klugerweise auch Moishe Postone in seinem Vortrag explizit hingewiesen. Die Vermengung beider scheint mir nämlich nicht nur in dieser spezifisch habermasianischen Verhandlung des (selbstproklamierten) Themenkomplexes „Ideologie, Entfremdung, Verdinglichung“ – Fetischismus kommt nur am Rande vor – verbreitet zu sein, sie dürfte vielmehr in weiten Teilen einer mehr oder minder von dialektischem Denken inspirierten theorieaffinen Linken in der einen oder anderen Form vorzufinden sein. Inwieweit das mit dem Einfluss einer „idealistischen Rückübersetzung“ der neuen Frankfurter Schule zu tun hat, die auch den Re-Thinking Marx Kongress maßgeblich geprägt hat, kann ich nicht beurteilen. Als kritische Vorlage auf durchaus hohem Niveau kann diese jedoch gelten. Nicht zuletzt wird wert-abspaltungskritische Theorie wohl auch v.a. in diesem Milieu neue Gesichter überzeugen können, da doch eine gewisse inhaltliche Nähe besteht, was einen ersten, oberflächlichen Zugang zu Marx anbelangt: das dialektische Erbe wird nicht per se verworfen, sondern ernst genommen; Aspekte wie Verdinglichung und Fetischismus werden zumindest verhandelt; ein nicht bloß analytisches, sondern auf Totalität zielendes Verständnis wird durchaus hochgehalten. Das Problem scheint mir hier eher weniger ein Zuwenig an Hegel zu sein, als ein Zuviel. Dies äußerte sich auch in der, bereits erwähnten, Einladung einiger sehr merkwürdigen (marxistischen) Hegelianer, die recht unverblümt idealistische Thesen hochhielten und damit alles Mögliche zu begründen trachteten. Vor dieser Schlagseite muss ernstzunehmende dialektische Theorie sich tatsächlich hüten, denn hegelianische Argumentationsmuster können allzu leicht ins Dogmatische kippen und stellen dann in sich durchaus schlüssige ideelle Matrizen dar, die jedoch tatsächlich nur einem Selbstzweck dienen – dem der Bestätigung der impliziten ontologischen Annahmen des hegelianischen Rhetorikers. Dabei ist es mitunter schwer, diese versteckten ontologischen Annahmen auszuweisen, was nicht zuletzt der dialektisch-kritischen Marx-Rezeption eine Grube gräbt, aus der sie sich, solche rein argumentative Strategien abwehrend, immer wieder herausgraben muss.

Zum Abschluss: Über die (Kritik der) Politik

Demgegenüber bleibt aber doch ein Problem, dass sich trotz der Kritik all der Fallstricke und falschen Wege der besprochenen Theorietradition nicht auflöst und sich als wichtige inhaltliche Tendenz auch durch die Konferenz hindurch zog. Es ist dies die Frage nach dem Verhältnis von Ökonomischem und Politischem, oder vielleicht eher noch nach Determination und Kontingenz (denn beides ist nur polar in den jeweiligen „Sphären“ verdichtet, tritt aber nicht unilokal auf). Hier ist auch die Rede von der „synchronen“ und „diachronen“ Zeitform, die Axel Honneth aufbrachte, nicht ganz von der Hand zu weisen. Zweifellos kann eine negative, dialektisch-kritische Perspektive diese Momente nicht distinkt voneinander denken, sondern muss sie entlang der allgemeinen modernen Widerspruchslogik der Wert-Abspaltung denken. Dies reicht aber natürlich nicht hin, um etwa eine auch nur ansatzweise stichwortgebende Theorie des Politischen präsentieren zu können. Die Vorlage der habermasianischen und auch der üblichen an Gramsci, Poulantzas und Althusser geschulten Verdächtigen bietet hier freilich auch wenig, da sie die Form der Politik selbst für gewöhnlich nicht hinterfragt.

Umso überraschender war deshalb der Vortrag von Alex Demirovic, der bezeichnenderweise den Titel „Die Dialektik des Politischen. Zur Kritik der Politik und ihren Folgen“ trug. Demirovic ist zwar auch ein Frankfurter Schüler, der noch bei Adorno&Co studierte; er hat jedoch in den letzten Jahren eher durch seine Hinwendung zu einem voluntaristischen Verständnis von „kritischer Theorie“ Furore gemacht und ist nicht zuletzt durch seine ausführliche Auseinandersetzung mit Poulantzas und dessen Neu-Interpretation bekannt geworden[4]. Nichtsdestoweniger hat er die Ufer einer dialektischen Theoriebildung anscheinend zumindest nicht völlig verlassen, wovon ich mich auch in einer durchwegs spannenden Vorlesung an der Universität Wien einstmals selbst überzeugen konnte.

Demirovic schloss nun an eine Fragestellung an, die sich durch die ganze Konferenz in ungewöhnlich deutlicher (wenn auch nicht explizit formkritischer) Weise hindurch zog: wie lässt sich die Politik selbst thematisieren und historisch kontextualisieren, was sind ihre Grenzen und Spielräume und nicht zuletzt, wie ist sie ins Verhältnis zur Ökonomie zu setzen? Dabei wurde viel auf die Marx-Schrift „Zur Judenfrage“ verwiesen und die darin angelegte radikale Kritik der Politik diskutiert. Wenn auch die Kritik der Formlogik selbst verhalten blieb, so stellt für mich die Debatte ein gewisses Novum dar – zumindest angesichts der recht wenig hinterfragten Politik-Konzepte einer eher gramscianisch geprägten akademischen Linken. Ob dies eine neue Bewegung ist, oder ich schlicht nur an den falschen Quellen saß, kann ich nicht unmittelbar sagen. Jedenfalls stellt diese Tendenz – nicht zuletzt angesichts der diesbezüglich auch in der wert-abspaltungskritischen Theorie noch eklatanten Auslassungen – eine interessante Entwicklung dar, die es aufzugreifen gilt. Auch Demirovic setzt sich mit der Marxschen Frühschrift zum Politischen auseinander, er ist jedoch merklich angewandter und weniger philologisch unterwegs. Er kritisiert eingangs die Vorstellung Zizeks, dass es einer „ereignishaften“ und subversiven Form der neuen, „guten Politik“ bedürfte, welche die konstituierende Wirkung der herrschenden in Frage stellt. Diese Opposition zwischen „guter“ (weil z.B. „basisnaher“) und „schlechter (weil repräsentativer) Politik ist im Grunde ein Evergreen linker Debatte und führt immer wieder zu aporetischen Oppositionen. Demirovic meint nun, dass die Opposition selbst Thema werden müsste und somit eine „Dialektik der Politik“ anvisiert werden sollte. Politik ist dementsprechend nie als nur subversive oder rein konstituierende zu haben, sie ist der „ideale Durchschnitt“ von beiden Momenten. Bezeichnenderweise wird auch beides von Marx kritisiert, nämlich auf Grund der immanenten Natur diese Widerspruches selbst – die Politik hat insgesamt nicht die Macht und die Mittel, um das gewünschte Gemeinwesen herzustellen. Zumindest dann nicht, wenn mit Emanzipation der radikale Bruch gemeint ist, der v.a. auch mit der kapitalistischen Produktion und ihrer Allokation am Markt Schluss macht. Anstelle von Regierungen müsste die „Verwaltung von Sachen“ treten, der Staat würde absterben. Viel weitergehend würde das aber auch ein Ende der Politik bedeuten, denn die Spannung zwischen dem Anspruch auf Allgemeinheit und dem Partikularen würde verschwinden. Wenn es diese Antagonismen, die letztlich immer auch auf die Verfügung über Ressourcen abzielen, nicht mehr gibt, wäre diesbezüglich keine politische Diskussion mehr nötig, sondern nur noch eine rein technische.

Demirovic fährt mit einer Darstellung der Kritik dieser Position fort, und zwar jener von Seiten des Berliner Philosophen Frieder Otto Wolf. Dieser meint, dass die These vom Absterben des Staates (bisher) immer zum Gegenteil führte, nämlich einem autoritären Staat, der in Technokratie und somit der negativen Utopie eines „unpolitischen Allgemeinen“ aufging. Diese Linie der Kritik der Marxschen Kritik der Politik spitzt sich zu in der politischen Philosophie von Laclau und Mouffe, die bekanntlich von einem dauernden Konflikt über das Allgemeine als ontologischer Konstante ausgehen und folglich jegliches Monopol einer Definitionsgewalt über das Allgemeine kritisch beäugen. Die Individuen sollen vielmehr konfliktbereit sein, jedoch nicht im gewalttätigen Antagonismus, sondern der agonistischen Formen der Konfliktverhandlung, die wohl durchaus in der demokratischen Republik am ehesten vorhanden scheint. Demirovic interpretiert die beiden AutorInnen dabei so, dass sie den Klassenkampf letztlich sistieren wollen, insofern er bei Marx impliziert, dass eine partikulare Gruppe (Proletariat) politische Allgemeinheit beansprucht. Es würde also eine Art deliberatives Bild der Gesellschaft vertreten, in der v.a. die universalistische Inszenierung des Partikularen hinterfragt werden soll.

Unabhängig davon, ob diese Laclau/Mouffe Rezeption ihnen völlig Recht tut, ist Demirovic‘ Antwort sympathisch (so ich sie nicht missverstanden habe): er kritisiert jene Marxrezeption, die davon ausgeht, dass das Proletariat als Partikulares sich Universalisieren will[5] und meint, dass Marx höchstens eine negative Universalität des Proletariats vorschwebte, deren Ziel die Aufhebung aller Klassen- und Standesunterschiede war. Es ginge also darum, gar nicht mehr genötigt zu sein, die „eigene Partikularität anderen als Universales aufzuzwingen“ und somit um eine „Emanzipation von der Logik des Unrechts selbst“. Dies kann als utopische Vorlage der Frühschriften betrachtet werden, die jedoch auch auf den Maßstab der Kritik der Politik verweist – Marx ist gegen die Gleichmacherei der französischen Revolution, und die positive Einschätzung der Pariser Commune als „soziale Revolution gegen den Staat selbst“ legt nahe, dass er dieser Haltung auch in späten Jahren zumindest teilweise treu blieb. Auch die Commune ist nach Demirovic natürlich noch kritisch zu betrachten, da sie eine bloße Verallgemeinerung des Wahlrechts anstrebte, aber immer noch politisch blieb, was in engem Zusammenhang damit steht, dass der Produktionsapparat der Gesellschaft unberührt blieb. Hier endete der Vortrag mit der „Unabgegoltenheit der Marxschen Kritik der Politik“, die auch der Referent nur durch vage Verweise auf das Rätesystem und eine „neue Form der gesellschaftlichen Differenzierung, in der kollektive Entscheidungen vorgenommen werden“ zu ergänzen wusste. Trotz – oder vielleicht gerade auf Grund – dieser Offenheit am Schluss fand ich den Vortrag insgesamt überzeugend. Er war zwar durchgängig eher tentativ angelegt und beschränkte sich auf eine darstellende Auseinandersetzung mit den Positionen der Marxschen Kritik der Politik und ihrer GegnerInnen; dennoch ist mir nicht ganz einsichtig, wie die eigenen Positionierung Demirovic‘, die mir hier implizit doch angelegt zu sein scheint, sich mit seinen sonstigen Ansinnen im Kontext der akademischen „Polit-Linken“ vereinbaren lässt. Er hat zwar die immanente Rolle des politischen Kampfes nicht explizit verworfen (was ja auch keine ernstzunehmende Position tun würde), umgekehrt ist aber der auf den gramscianischen politischen Strategismus zurückgehende linke Theorie jegliche Vorstellung einer Kritik der Politik selbst für gewöhnlich sehr fern. Zweifellos kenne ich die Textgrundlage des Vortrags nicht und auch sonst nicht alle Äußerung Demirovic‘; vielleicht habe ich auch etwas missverstanden. Die grundsätzliche Ausrichtung würde ich dennoch als weiterführend werten.

Dies gilt insbesondere angesichts des Übergewichts an „falschen Illusionen“ über die deliberative Funktion des Politischen als überhistorischer und eigentlich neutraler „Aushandlungsform“. Auch hier gilt: selbst wenn Momente einer deliberativen Sozialontologie stimmen mögen, sind sie durch die „Sachzwänge“ der genuin modernen Politikform dermaßen überlagert, dass Gedanken über sie eben nicht viel mehr sein können als Gedankenspiele. Gefährliche Gedankenspiele jedoch, da sie nicht nur von den herrschenden Ideologien und fetischistischen Formzwängen ablenken können, sondern auch die Vorstellung einer Emanzipation, die „aufs Ganze“ geht, heimlich hintertreiben. Denn wenn Ökonomie und Politik als intrinsisch verwoben betrachtet werden, kann eine einseitige Überwindung nicht funktionieren. Das heißt umgekehrt natürlich, dass eine „starke“ These über die Möglichkeit einer befreiten Sozietät vertreten werden muss. Communismus kann nichts anderes heißen, als die weitestgehende Schließung der Dimensionen der Deliberation, insofern, als das Prinzip des Antagonismus tatsächlich bereits auf der Ebene der sozialontologischen Grundkonstitution des sozialen Ganzen (ich würde hier sowohl die Begriffe „Gemeinschaft“ wie auch „Gesellschaft“, wie sie seit Ferdinand Tönnies als Opposition verhandelt werden, bewusst vermeiden) von vorneherein umfassend sistiert ist. Diese Vorstellung einer „organischen Totalität“, die größtmögliche Transparenz mit größtmöglicher Solidarität verbindet, mag utopisch klingen. Aber ist nicht die reale Existenz einer „automatischen Totalität“ der Wert-Abspaltung, wie wir sie heute ertragen müssen, eine von außen betrachtet mindestens genauso abwegige Paradoxie? Wir leben in dieser Paradoxie und müssen mit ihren widersprüchlichen Konsequenzen erst einmal umgehen lernen. Hierfür bedarf es eines produktiven Diskurses kritischer Theorien, welche die Falschheit des Falschen (frei nach Titus Stahl) überhaupt verständlich machen. Trotz der Ambivalenzen sehe ich in der Möglichkeit und auch dem faktischen Ablauf einer breit angelegten und nun auch wieder „salonfähigen“ Debatte über Marx (hinaus) als wichtigen Schritt in diese Richtung. Recht schlecht prognostizierbare historische Konjunkturen „politischer“ Art mögen dazu beigetragen haben. Jedenfalls ist es, so denke ich, an der Zeit, dass diese positiven Impulse auch von der kritischen Theoriebildung aufgegriffen werden und v.a. wieder zu organisatorischer Verstetigung und einer Verstärkung der ergebnisoffenen, aber trotzdem ergebnisorientierten Diskussion miteinander führen. Um Politik wird dabei niemand herumkommen, jedoch besteht angesichts des (ideologie-)kritischen Stands der Debatte m.E. durchaus die Chance, dass Theoriepolitik nicht im Politischen aufgeht und somit weiter immanent bleibt. Hierfür muss freilich sowohl inhaltlich als auch praktisch „gekämpft“ werden, und große Veranstaltungen wie der Marx Kongress können hierzu beitragen, ebenso wie die Organisation im Kleinen. Jedenfalls gilt es – gerade angesichts der sich zuspitzenden Krisenverhältnisse – Altes zu überdenken und Neues auszuprobieren.

von Elmar Flatschart,
erschienen zuerst unter

 

Literaturverzeichnis

Demirovic, Alex. Nicos Poulantzas. Aktualität und Probleme materialistischer Staatstheorie. Münster: Westfälisches Dampfboot , 2007.

Graham, J., & Gibson, K. (2006). The end of capitalism (as we knew it). A feminist critique of political economy. Minneapolis : University of Minnesota Press.

Habermas, Jürgen. Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1982.

Anmerkungen

[1] Wem die neuesten Kleider der poststrukturalistischen Dekonstruktion noch nicht geläufig sind:  Julie Graham und Katherine Gibson traten gemeinsam als AutorInnenkollektiv auf und publizierten bis zum Tod von Graham auch stets gemeinsam unter diesem Alter-Ego. Ihre Position findet sich im bereits 1996 erschienen Werk „The end of capitalism (as we knew it). A feminist critique of political economy” (Graham & Gibson, 2006), scheint aber in der hiesigen Debatte erst in letzter Zeit rezepiert zu werden.

[2] Dies verweist auch auf die heimliche Verwandtschaft einer – idealistischen – Ideologietheorie im Anschluss an das Erbe Althussers und einer ebenso idealistischen selbstproklamierten Ideologiekritik mit Bezug auf die Habermas’sche „idealistische Rückübersetzung“ der Kritischen Theorie. Den gemeinsamen Nenner stellt der homologe Verweis auf das Politische als mehr oder minder kontingente Aushandlungsform dar. Politik wird zwar durch die von Gramsci inspirierte voluntaristische Deutung viel konfliktorischer interpretiert als durch den repressiven Reformismus der neuen Frankfurter Schule; beide sind jedoch auf dieselbe politische Formlogik als „ultima ratio“ der Kontigenz verwiesen und unterliegen gleichermaßen einer falschen Vorstellungen über die historische Formbestimmung des Politischen selbst. Das heißt nun natürlich nicht, dass alle Aspekte der einschlägigen Politik- wie Ideologietheorien gänzlich zu verwerfen sind; sie sind jedoch grundlegend zu revidieren und im Lichte einer Fetischkritik auch des Politischen neu zu betrachten.

[3] Das ist übrigens auch das gewichtigste Argument gegen eine Form von Denunziation der Fetischkritik, die ihr vorwirft, erneut „Nebenwidersprüche“ auszumachen. Wenn sich der eine, grundlegend zu bestimmende, Widerspruch der Wert-Abspaltung durch alle Aggregatzustände des Theoretisierbaren hindurch reartikuliert, heißt das weder, dass er mit scheinbar distinkten Ideologien wie Homophobie ident ist, noch von ihnen völlig unabhängig (was ja auch eine Ableitungslogik erst möglich machen würde). Es geht hier schlicht um eine andere, nicht-einwertige Art des Denkens in Widersprüchen selbst, die eine – selbst noch gebrochene – Widerspruchslogik inkarnieren. Als Formlogik ist sie damit eben nicht distinkt vom Inhalt getrennt; die Bezeichnung als „Form“ steht bloß für das dominante hierarchische Verhältnis, dass in der Wert-Abspaltung selbst impliziert ist und „das Andere“, Abgespaltene stets schon zum Nicht-Sagbaren und Unterworfenen macht.

[4] Vgl. hierzu (Demirovic 2007)

[5] Diese Tendenz zu überwinden ist im Wesentlichen auch der Kern der wert-abspaltungskritischen Kritik des ArbeiterInnenbewegungsmarxismus.

Weihnachtskritik = Religionskritik = Gut?

Oder: Warum einfache Gleichungen meist gar nicht so einfach sind

Vor mehr als 150 Jahren schrieb ein Mann mit langem weißen Bart: „Die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik.”1 Obwohl dieser Mann oft mit der Farbe Rot assoziiert wird, handelt es sich nicht um den Weihnachtsmann. Auch hat der Mythos, welcher von ihm ausging, eindeutig mehr Wahrheitsgehalt als jener um Santa Claus. Nun gilt es, jedwede Mythologie beständig zu hinterfragen und Weihnachten scheint ein guter Zeitpunkt zu sein, um dies zu tun. Zuerst stellt sich die Frage: Ist Weihnachten überhaupt noch ein Fest der Religion? Die Kritik an Kommerz, Spektakel und Leerheit des „Weihnachtsgedankens” wird immer lauter und kommt aus verschiedensten Ecken der Gesellschaft. Diese Wahrnehmung ist so weit verbreitet, dass sich gar unheimliche Gemeinsamkeiten auftun zwischen jenen, die für und wider das Jesuskind streiten : In der Kulturkritik am „amerikanisierten” Weihnachten treffen sich religiös/spirituell Motivierte mit KämpferInnen gegen den Kapitalismus. Scheinbar fallen der Standpunkt der Kritik der Religion und ihrer Verteidigung zusammen und bilden ein Ressentiment, das durch breite Schichten der Bevölkerung geht. Bloß: Es ändert nichts. Weihnachten bleibt wie es ist. Eine paradoxe Mischung aus nicht einholbaren Erwartungen und der schnöden Realität des Kaufens und Schenken(müssen)s.


Auf zur Religionskritik!

Beide Punkte, die ideologische Verkehrung und die von ihr sehr offen divergierende Realität, schreien nach einer Erklärung. Es bietet sich hier an, bei dem Grundgedanken zu beginnen, der zumindest für Linke viel zu unhinterfragtes Essential ist: Was bedeutet es, dass die Kritik der Religion Voraussetzung aller Kritik ist? Damit gemeint ist nämlich nicht einfach (nur), dass Religion zu kritisieren ist. Gesagt wird, dass es sich dabei um eine Vor‐Aussetzung handelt, etwas, das eben zeitlich, aber auch inhaltlich, vorauszugehen hat. Es war dies freilich das große Steckenpferd der Aufklärung, dass die alte Welt des Glaubens an übernatürliche Determination zerschlagen wurde. Nicht mehr die Religion sollte das herrschende Bindeglied von Gesellschaft sein, sondern Vernunft. War das im 19. Jahrhundert noch nicht zu Ende gebracht, so kann das vom 20.Jahrhundert mit Fug und Recht behauptet werden. Religion bleibt zwar ein wichtiger ideologischer Apparat, sie ist jedoch in vielen Teilen der Welt kein gesellschaftsordnender Faktor mehr. Sie wurde quasi aus dem Öffentlichen ins Private verschoben und reüssiert hier heute auf dem postmodernen Markt der Identitäten als eine neben anderen identitätsstiftenden Instanzen. Religion zu kritisieren ist also weiterhin legitim, es sollte jedoch der neue Kontext, in dem diese Kritik sich bewegen muss, berücksichtigt werden. Eine aufklärerische Kritik, die der Religion bloß die Vernunft gegenüberstellt und die
Meriten der modernen verwissenschaftlichten Welt hochhält, greift deshalb zu kurz. Einerseits übersieht sie die historische Veränderung, welche die gesellschaftliche Rolle der Religion durchgemacht hat – es kann nicht die eine, „objektive” Kritik geben, sondern Religionskritik muss zuerst Kritik der gesellschaftlichen Funktion von Religion sein. Andererseits muss auch ideengeschichtlich weitergefragt werden, nämlich ob nicht der Standpunkt der Kritik selbst kritisiert werden
sollte. Denn es stimmt zwar, dass die Kritik aller vormodern‐religiösen Sinnsysteme eine notwendige Voraussetzung jedweder Emanzipation ist – in ihnen gibt es schlicht keinerlei Selbstbestimmung der Menschen, nur Schicksal. Allerdings heißt das nicht, dass dabei stehen zu bleiben ist. In vielerlei Hinsicht stellt die aufklärerische Vernunft selbst eine neue, religionsartige Ideologie dar und erfüllt so eine herrschaftslegitimierende Aufgabe2. Zweifelsohne wäre es falsch, den „Glaube an die Vernunft” mit jenem an Gott gleichzusetzen. Die durch aufklärerische Vernunft vermittelte Herrschaftslogik verläuft in einer komplexen Verkehrung, die als „Dialektik der Aufklärung”3 fassbar ist – als gleichzeitiger Prozess der Emanzipation und Unterwerfung unter eine „instrumentelle Rationalität”, wie sie für das moderne warenproduzierende Patriarchat kennzeichnend ist. Es ist also dieser kleinste gemeinsame Nenner einer Identitätslogik der Ware, der uns in der Form der Vernunft begegnet, die strukturell männlich ist. Alle darin nicht aufgehenden Elemente des Sozialen werden abgespalten, als natürlich, inferior oder schlicht nicht bezeichenbar markiert, um schließlich als „das Andere” projiziert zu wer‐den. Klassisch hat für diese widersprüchliche „Sphärenteilung”, die gleichzeitig auch eine Art von Arbeitsteilung ist, vor allem „die Frau” herhalten müssen. Religionskritik, die nicht gleichzeitig Gesellschaftskritik ist und die Dialektik der Aufklärung nicht mitdenkt, tendiert folglich dazu, ideologisch zu werden. Eine gesellschaftskritische Position, die nicht die spezifisch modernen Mystifikationen avisiert, läuft hingegen Gefahr zu bloßem Moralismus zu degradieren. Kapitalismus ist für sie nur deshalb schlecht, weil er schlechte Phänomene produziert, aber nicht, weil er auf einem grundverkehrten Prinzip beruht. Soweit, so philosophisch.

Was lässt sich hiermit nun unter dem Christbaum anfangen?
Wie es sozial wirkmächtige Rituale so an sich haben, kommt es auch bei diesem zu einer Kulmination gesellschaftlicher Widersprüche. Das „Fest der Stille” soll aus dem kapitalistischen Alltag reißen und eben jene (abgespaltenen, oft auch „weiblichen” ) Seiten betonen, die für gewöhnlich zu kurz kommen: Intensive soziale Interaktion im Kreis der Nahestehenden (zumeist Familie), Ruhe und Besinnung (oft in Verbindung mit Spiritualität) und rituelle Reproduktion der eigenen kulturellen Identität (die durchwegs völkischkonservativ aufgeladen ist). Dass dies aber meistens nicht funktioniert, im Gegenteil oft in Entmutigung, Familientragödie oder anderen psychischen Ausnahmezuständen endet, wird nun im „Massenbewusstsein” so verarbeitet, dass das eigene Scheitern dem vermeintlich Anderen, Kommerziellen – sinnbildlich: dem Coca‐Cola‐Weihnachtsmann – in die Schuhe geschoben wird. Und dies trifft eben nicht nur für die VerteidigerInnen der Religion zu, sondern auch für ihre KritikerInnen. Die ach so vernünftige, atheistische, vielleicht sogar linkspolitische Position fühlt sich weit erhaben über all das, was Weihnachten bedeuten soll. Sie kritisiert wahlweise Religion oder Kapitalismus, verkennt aber deren innere Gemeinsamkeit. Meine These ist, dass das Scheitern an dem Ritus Weihnachten ein viel breiteres Phänomen ist, als es seine GegnerInnen wahrhaben wollen. Denn viele sind mit der sozialen Praxis Weihnachten sozialisiert, die (oft fremden) Erwartungen, aber auch (ganz eigenen) Bedürfnisse
sind tief verwurzelt. Wir gehen nur unterschiedlich damit um. Letztlich gibt es auch keinen „richtigen” Umgang mit Weihnachten. Es gibt notwendige Kritik, beispielsweise an dem bigotten Familien‐Kitsch, in dem vielfach ein altes (strukturell patriarchales) Familienideal gegen die Realität der neuen Patch‐Work‐Familien ausgespielt wird. Nicht nur als Ideologie ist dieser zu kritisieren, sondern auch auf Grund des Leides, das dadurch alljährlich entsteht. Es sollte aber auch hinter die Ideologien (von Religion und Vernunft) geblickt werden, denn dort befinden sich basale Bedürfnisse der Menschen, die in der herrschenden Gesellschaftlichkeit kaum einlösbar sind. Sie werden von ApologetInnen der Vernunft wie auch der Religion nicht ihrem eigentlichen Gehalt nach gesehen. Denn die Bedürfnisse nach Emotionalität (die allzu oft in Spiritualität eskamotiert werden), nach ehrlichen und nahen sozialen Bezügen (die im Korsett Kleinfamilie schon immer zum Scheitern verurteilt waren) und ja, selbst nach sinnvollen gesellschaftlichen Ritualen, sollten nicht ignoriert, sondern als normatives Ziel von Gesellschaftskritik ernst genommen werden. Weihnachten ist nicht zu retten, wie auch die Gesellschaft, die es hervorbringt. Aber gerade deshalb ist es als Phänomen auch nicht zu ignorieren, sondern kritisch aufzugreifen. Denn es bleibt letztlich niemandem erspart, persönlich einen erträglichen Umgang mit Weihnachten zu finden.

Anmerkungen

1 Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. MEW 1, S. 378

2 Ein Literaturtipp für eine kontroverse Position zum Thema: Robert Kurz: Blutige Vernunft. Horlemann.

Bad Honnef 2006

3 Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Suhrkamp.

Frankfurt/Main 2006

 

Autor: Elmar Flatschart, 2009.

Erschienen in Unique:

 

Siehe

Adorno, Theodor W. (1954) “Beitrag zur Ideologienlehre”

„In dem Vakuum dazwischen verliert sich das dialektische Problem der Ideologie: daß diese zwar falsches Bewußtsein, aber doch nicht nur falsch sind. Der Schleier, der notwendig zwischen Gesellschaft und deren Einsicht in ihr eigenes Wesen liegt, drückt zugleich kraft solcher Notwendigkeit auch dies Wesen selbst aus. Unwahr werden eigentliche Ideologien erst durch ihr Verhältnis zu der bestehenden Wirklichkeit“ (Adorno 1954, 472f.).

 

Adorno, Theodor W. (1954) “.