Tag Archives: Ideologiekritik

Kulla, Daniel (2007) "Entschwörungstheorie"

„Das Dilemma der Entschwörung besteht also darin, daß diejenigen, die die Voraussetzungen des Verschwörungsdenkens am treffendsten auf den Begriff bringen – die Vertreter der Kritischen Theorie -, sich nur wenig für die Vermittlung der Ideen interessieren, während diejenigen, die sich mit der Vermittlung und den Ideen am besten auskennen – die Diskordier -, selbst knietief im Konspirationismus stecken. Das praktisch wirkungsvollste Mittel gegen Verschwörungsdenken – das Internet – steht wiederum im Ruf, ihm mit Abstand am meisten Vorschub zu leisten, was es bei unkundigem Gebrauch allerdings auch tut.“ (Quelle: s.u.)

Zum Anhören und Anschaun:
und

INHALT

  • I Fronten
    Böser Bush und böser Kapitalismus – Dan Brown und das Eigentliche – Antisemitische Verschwörungstheorie – Globale Propheten – Umschlagpunkt 9/11 – Vorhaben dieses Buches
  • II Travestie
    Spielerische Verschwörungstheorien und Konspirationismus – Wem wird geglaubt? – Politiktravestie – Was wird geglaubt? – Geschichtstravestie – Allzweckwaffe Konspirationismus
  • III Absolutismus
    Made in Germany – Die gute eigene Gesellschaftsordnung – Verschwörungstheorie und Verschwörungspraxis
  • IV Junker
    Konterrevolution für alle – Völkischer Antiimperialismus – Vorarbeit fürs 20. Jahrhundert
  • V An der Macht
    Deutsche Arbeit – Leninismus – Organisierte Gegenverschwörung – Nazis als Verschwörung gegen die Deutschen – Die Kapelle der Gefahren
  • VI Peripherie
    Satan und der Kommunismus – Die guten Deutschen – Ideologieexport in den Nahen Osten
  • VII Babylon
    Fight Club und Matrix – Postmoderne Eingemeindung – Abstrakte und konkrete Deutsche – Wendepunkt 9/11 – Kompilation des antifaschistischen Antisemitismus – Die moralischen Deutschen
  • VIII Entschwörungstheorie
    What we learned today – Kritische Theorie – Diskordianismus – Das böse Internet – Auslegungsmonopol – Entschwörung – Abspann: Mehr Verschwörungstheorien!

(Quelle: http://www.classless.org/2007/04/06/buch-entschworungstheorie-released/ )

  • Kulla, Daniel(2007) „„, Löhrbach: Werner Pieper & The Grüne Kraft

Die Geburt der Hausfrau, der Kindheit und anderer Zufälligkeiten

Was heute so selbstverständlich als Hausarbeit und weibliche Tätigkeiten gilt, ist grob datiert um das 17./18. Jahrhundert entstanden. Kein einziger Bestandteil der genannten Hausarbeitsdefinition und erst recht nicht alle zusammen trifft auf die Zeit vor dem 17. Jahrhundert zu. „Hausarbeit ist relativ neuen Ursprungs, sie hat ihre Anfänge im 17./18. Jahrhundert mit den Anfängen des Kapitalismus und entfaltet sich, ungleichzeitig in verschiedenen Ländern und Regionen, in dem Zeitraum nach der industriellen Revolution. In dieser Zeit scheint sich fast alles, was Hausarbeit heute ausmacht, verändert zu haben: was es ist, wer sie tut, wie sie getan wird; die Einstellung zu ihr, ihre sozioökonomische Bedeutung, ihre Beziehung zur gesellschaftlichen und natürlichen Umwelt. Selbst der Begriff Hausarbeit scheint vor dieser Zeit nicht zu existieren, wie auch der moderne Begriff der Familie erst mit dem Aufkommen der bürgerlichen Familie im Europa des 17./18. Jahrhunderts entsteht.“ (Bock/ Duden 1976: 122)

Die Geschichte der Hausarbeit zeigt sich dabei essentiell mit einem Raumkonzept verknüpft, das einen öffentlichen Raum von einem privaten Raum trennt. Dabei streiten sich die Geister, wann dieser private Raum das erste Mal auftaucht. Viele sind davon überzeugt, den Zeitpunkt mit der Entstehung der griechischen Polis  festlegen zu können. Irmgard Schultz widerlegt diese „populäre Auffassung von oîkos als ‚Haushalt‘ oder ‚Privatsphäre‘“(Schultz 1994: 116). Klar ist jedenfalls, dass sich diese Trennung von privat und öffentlich im Mittelalter nicht aufrechterhalten lässt. Die „alte Gesellschaft“ vor der Industrialisierung beruht hauptsächlich
auf einer Familienwirtschaft, also der Gesamtarbeit von Mann, Frau, Kindern, Knechten, Mägden, Blutsverwandten und Nicht-Blutsverwandten. Wenn es auch verschiedene Formen der Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen gab, eine Trennung gab es nicht: die, zwischen häuslicher, unbezahlter und außerhäuslicher, bezahlter Arbeit. (Wir nehmen an, dass in den Häusern des Adels oder der Lehensherren die Rollen etwas differenzierter waren, die Situation der Frauen und der Männer aber nicht grundlegend anders. So gab es vielleicht einen Gutsverwalter, Soldaten, eine Amme usw., aber keinen privaten Haushalt.)

Die heute so natürlichen, weiblichen Tätigkeiten, das Kochen oder das Putzen, beschränkten sich auf das notwendigste, vor allem aber geschah es nicht  „unsichtbar“, sondern war Teil der Familienwirtschaft. Auch der „Arbeitsplatz“ Kinderstube kam nie vor. Dass Kindheit eine eigene Lebensphase ist, Kinder eine besondere Behandlung benötigen oder einen eigenen Raum, ist eine relativ neue Erkenntnis. (Bock/ Duden 1976: 133f.) Die traditionelle Form der  Säuglingsaufbewahrung war das Wickeln. Die Säuglinge, fest in Stoffbinder eingebunden, waren bewegungsunfähig. Dadurch konnten sie viele Stunden allein gelassen werden, ohne die Gefahr, dass sie sich verletzten. Sobald sie laufen lernten, waren sie kleine Erwachsene. Erst die bürgerliche Reformbewegung setzte sich für kindgerechte Erziehungspraktiken ein. Und mit dem Bürgertum entstand die Mutterrolle.

Auch die Form der Unterdrückungder Frau änderte sich. War die Vormachtstellung des Mannes in der alten Gesellschaft noch etwas, das gegen Widerstand durchgesetzt werden musste, regierte in der bürgerlichen Gesellschaft eine Idealvorstellung. So setzte sich seit dem 17. Jahrhundert das Bild der passiven, sanften und freundlichen Hausfrau und Mutter – erstmals formuliert vom englischen Puritanismus – als Norm durch. Es muss nicht dazugesagt werden, dass es einer riesigen Propagandabewegung bedurfte, um vor allem im 19. Jahrhundert die Mutterrolle als natürliche Bestimmung der Frau durchzusetzen. Diese Art der Unterdrückung scheint die Autonomie der Frauen wirkungsvoll untergraben zu haben. Statt gegen offene Gewalt, haben Frauen mit der Drohung von  Unnatürlichkeit zu kämpfen.

Der wirtschaftliche und gesellschaftliche Umbruch, die Expansion des Handwerksund des Handels, der Aufstieg des Bürgertums und die beginnende Industrialisierung scheinen die Frauen zurückgedrängt zu haben. Zwischen dem 16. und 18. Jhd. verschlechterte sich die Rechtsposition der Frauen in Frankreich. Sie verloren Verfügungsmöglichkeiten über Mitgift und Besitzungen und das Recht, selbständig einen Bauernhof oder einen Handel führen zu können. Gleichzeitig wurde versucht, die Gewalt in der Ehe zu mildern. Das Recht des Mannes, seine Frau zu züchtigen, wurde in England eingeschränkt. In Frankreich wurde das Recht auf eine Trennung von Tisch und Bett von der katholischen Kirche immer häufiger anerkannt. (ebd. 150f.) Interessant ist, dass hier eine Kluft aufzugehen scheint, zwischen unabhängigen Frauen der Unterschicht, die arbeiten mussten und den Frauen der Mittelschicht, die das neue Ideal der Hausfrau verkörperten. „Während Frauen des ‚alten Typs‘ die Revolution in Frankreich trugen, wurden bürgerliche Frauenclubs geschlossen, mit der Begründung: die Frau gehöre ins Haus.“ (ebd. 151)

Das erste Mal in der Geschichte werden arbeitende Frauen mit dem Vorwurf konfrontiert, ihren Mann und ihre Kinder zu vernachlässigen. So heißt es in einem  medizinischen Untersuchungsbericht über die Lage der Landarbeiterinnen in England 1864: „Das, was Sitte und Anstand der Landmädchen vor allem zerstört,  scheint mir in ihrem Gefühl der Ungebundenheit zu liegen. Und das haben die Frauen dadurch, daß sie eine bezahlte Arbeit haben … Alle Verdienstmöglichkeit gibt den Frauen einen vulgären Charakter, in ihrer Erscheinung und in ihren Verhaltensweisen, während Abhängigkeit im Unterhalt von dem Mann die Quelle allen bescheidenen und freundlichen Umganges ist.“ (Knitteringham 1975, zit. nach Bock/Duden 1976: 151f.)

Zur Entstehung der modernen Hausfrau – also dem Übergehen von dem Familienideal eines kleinen Teils der Bevölkerung (dem städtischen Bürgertum), hin zu einem Phänomen, das sich auch in der Arbeiterklasse ausbreitet – skizzieren Bock und Duden zwei Entwicklungslinien. Die eine ist der Übergang von der  Hausherrin zur Hausfrau. Das hing einerseits mit der verringerten Zahl an willigen DienstbotInnen zusammen, andererseits mit der Mechanisierung des Haushalts, wodurch nun die Hausherrin in der Lage war, die Tätigkeiten alleine zu verrichten. Die zweite Entwicklungslinie ist der „Aufstieg“ der Hausmädchen zur Hausfrau. Diese sahen in der Fabrikarbeit eine Möglichkeit, der prekären Arbeit als Dienstbotin zu entgehen. Durch diese (wenn auch immer noch niedrigst bezahlte) Selbständigkeit eröffnete sich für sie die Möglichkeit, eine Ehe zu schließen und einen eigenen Haushalt zu führen.

Die Industrialisierung brachte weitreichende Veränderungen mit sich. Immigration und Verstädterung waren direkte Folgen. Dadurch wurden aber auch häusliche Arbeiten notwendiger als früher, z.B. durch den Rauch aus Fabrikschloten, der sich auf Wäsche und Häuser absetzte oder durch die Überfüllung in den  Mietskasernen. Konnten beim Entstehen der Fabriken die männlichen und weiblichen meist durch Landflucht und Migration beschafften Arbeitskräfte noch einfach „verheizt“ werden, verlangte das Elend und die daraus resultierende sinkende Leistungsfähigkeit, aber auch die Arbeitskämpfe, einen anderen Umgang. Neue Mittel wurden erforderlich, um die Arbeitsfähigkeit und -willigkeit zu garantieren. Die Qualität der Arbeitskraft geriet in den Fokus.

Es wurde entdeckt, dass höhere Löhne eine Konsumgesellschaft ermöglichen. Die durch Maschinen – Waschmaschine, Nähmaschine – erfolgte Reduzierung der Hausarbeit bei den Haushalten, die es sich leisten konnten, wurden durch neue Tätigkeiten aufgewogen: das Einkaufen und die Kindererziehung. Kinder sollten selbst gestillt werden, Frauen sollten das frühkindliche Reinlichkeitstraining überwachen und den geforderten Kampf gegen die Onanie führen. Die moderne Arbeitswelt erforderte die Erziehung zu Disziplin und Rationalität. Monotonie und Tempo des Fließbandes verlangten nach einer extremen physischen und psychischen Zurichtung der  Arbeiter. „Die Produktivität der Lohnarbeiter zu fördern, zu sichern, ja zu schaffen“ (ebd. 165) das war die neue Aufgabe der Frau.

Das „domestic science movement“ setzte, dem Vorbild Taylor in der Fabrikarbeit folgend, in den USA den Slogan Effektivität in der Haushaltsführung durch.  Tausende Frauen wurden vom Department of Agriculture ausgesandt, um andere Frauen in die Prinzipien moderner Haushaltsführung zu unterweisen. Ratgeber und Zeitschriften erledigten den Rest. Henry Ford richtete in seiner Auto-Fabrik ein Sociological Department ein, mit der Aufgabe, in den Haushalten der  Arbeiterfamilien bezüglich Moral, Arbeitsfreude und Effizienz nach dem Rechten zu sehen. (ebd. 164)

Die Frauen wurden so zu einem essentiellen Bestandteil der Lohnarbeit. Ein unbezahlter und unsichtbarer Bestandteil. „Die Subsumption der Hausarbeit unters Kapital muss nach zwei Seiten hin begriffen werden: einerseits begann man, den Männern höhere Löhne zu bezahlen, gerade so hoch, daß sie eine Frau in  ökonomischer und sexueller Abhängigkeit halten konnten; andererseits machte die Unterwerfung der Frau und die Durchsetzung der Familie als Organisationsform unbezahlte Hausarbeit in der Arbeiterklasse es möglich, den Arbeitern geringere Löhne zu zahlen, als es die Klassenkämpfe bis zu den Revolutionen von 1917/1919 erforderlich gemacht hätten. Das Kapital konnte den streikenden Arbeitern gewissermaßen die Frauen als Kompensation anbieten und die Frauenfeindlichkeit der Arbeiterbewegung hat diesen Handel akzeptiert.“ (ebd. 177)

Die Situation heute ist wieder eine andere. Der Slogan der „Wahlfreiheit“, der explizit nicht an Männer gerichtet ist, stellt es der Frau frei zwischen Karrierefrau- Rabenmutter, Karrierefrau-frigide-Kinderlosigkeit und Hausmütterchen zu wählen. Das Bild der Arbeitenden und die Anforderungen, die an sie gestellt werden,  haben sich in fortgeschrittenen Marktwirtschaften verändert. Dementsprechend wurde die Kindheit zur Investitionsphase, die heute mit Pränatal-Diagnostik, der Beschallung schwangerer Bäuche mit Mozart, bis zum Unterricht im Kindergarten ihre Vollendung gefunden hat.

 

Anmerkungen
Bock, Gisela/Duden, Barbara: Arbeit aus Liebe-Liebe als Arbeit. Zur Entstehung der Hausarbeit im Kapitalismus. In: Beiträge zur Berliner Sommeruniversität. Berlin, 1976

Schultz, Irmgard: Der erregende Mythos vom Geld, Frankfurt, 1994

 

Autorin: Therese Fuchs

Erschienen in Politix (30/2011)

 

Adorno, Theodor W. (1951) "Minima Moralia"

„Es gibt kein vergleichbares Werk in der philosophischen Literatur des 20. Jahrhunderts: Minima Moralia von Theodor W. Adorno ist eine Sammlung von 153 Reflexionen aus dem beschädigten Leben, die in der Kultur- und Gesellschaftskritik neue Maßstäbe gesetzt hat und auch ein halbes Jahrhundert nach der Erstveröffentlichung gleichermaßen durch Aktualität und analytische Schärfe verblüfft.“ (Quelle: http://www.litde.com/autoren/adorno-theodor-w.php )

  • Adorno, Theodor W. (1951) „„, Frankfurt a.M.: Suhrkamp

Beyer / Liebe (2010) "Antiamerikanismus und Antisemitismus"

„Der vorliegende Artikel befasst sich auf begrifflicher, theoretischer und empirischer Ebene mit Zusammenhängen zwischen antiamerikanischen und antisemitischen Ressentiments. Den begriffstheoretischen Ausgangspunkt bilden aus historischen Arbeiten destillierte gemeinsame Strukturprinzipien: Personifizierung von Modernisierungsfolgen, Manichäismus, Konstruktion eines identitären Kollektivs. Diese Strukturprinzipien gestatten es, etablierte Theorien des Antisemitismus auch auf den Antiamerikanismus anzuwenden. Auf der Basis einer kognitionspsychologischen Fundierung der Projektionsthese der Kritischen Theorie wird zum einen argumentiert, dass Antiamerikanismus (zusammen mit anderen Ressentiments) die psychische Funktion antisemitischer Einstellungen übernehmen kann, insbesondere bei der Kanalisierung von Unzufriedenheit mit gesellschaftlichen Verhältnissen (Projektionsverschiebung). Zum anderen spricht das Theorem der Kommunikationslatenz dafür, dass Antiamerikanismus als kommunikatives Vehikel antisemitischer Einstellungen auftreten kann (Umwegkommunikation). Beide theoretischen Zusammenhänge werden von einer exemplarischen empirischen Studie mit Querschnittsdaten gestützt, für die 241 Schülerinnen und Schüler aus Chemnitz, Dresden und Leipzig befragt wurden.“ (Quelle: )

Beyer, Heiko / Liebe, Ulf (2010) „„, in: Zeitschrift für Soziologie (Jg.39,H.3/2010), Stuttgart, S. 215-232

Wie hat’s der Antisemitismus mit dir?

Replik auf einen Beitrag der Gruppe D-Day

In einem kürzlich veröffentlichten Text weist die Gruppe D-Day auf die politische Relevanz der Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus hin. So sehr das Grundmotiv dieser Intervention zu unterstützen ist – nämlich die beständige Erinnerung an diese Basis-Ideologie des modernen warenproduzierenden Patriarchats –, sollte die tatsächliche politische Umsetzung sich vor allzu einfachen Schlüssen verwahren. Ideologiekritik und Politik in eins zu setzen bekommt beiden nicht und läuft letztendlich Gefahr, in (beidseitige) dogmatische Erstarrungen zu verfallen.

 

Antisemitismus oder die Shoah?

Es steht zweifellos außer Frage, dass sich sowohl linke Politik als auch (theoretische) Ideologiekritik intensiv mit der Shoah als Ausformung eines modernen Vernichtungs-Antisemitismus auseinanderzusetzen haben. Dass dies in einem post-nazistischen Kontext umso mehr Not tut, ist ebenso evident. Wichtig ist es jedoch, nicht der Vorstellung eines absoluten „Zivilsationsbruchs“ zu verfallen, auch wenn dies ein oberflächlicher Blick auf die historischen „Fakten“ nahelegen mag. Es gilt festzuhalten, dass Antisemitismus auch schon vor Auschwitz integraler Teil der „Zivilisation“ war und insofern das historische Ereignis einen Vorlauf und natürlich auch eine Nachwirkung in der Entwicklung des warenproduzierenden Patriarchats bzw. seiner ideologischen Verarbeitungsformen hat. In diesem Sinne war die Tradition der Arbeiter_innenklasse auch schon vor dem NS nicht „unschuldig“, ebenso wie sie aber auch keineswegs auf antisemitische, völkische oder gar nationalsozialistische Momente reduziert werden sollte. Linke Bewegungen waren damals gespalten, emanzipatorische und ideologische Momente eng miteinander verwoben – genauso wie es heute noch der Fall ist.

 

Zwischen Ideologiekritik und der Kritik des Politikfetisches

Diese Spaltung ist jedoch nicht allein auf den Antisemitismus zurückzuführen, tatsächlich lässt sie sich generell nicht bloß ideologiekritisch verstehen. Vielmehr verweist sie auf die Basis fetischistischer Vergesellschaftung, aus der Ideologien überhaupt erst entstehen. Dieser Fetischismus wird gemeinhin v.a. auf „ökonomische“ Tatbestände zurückgeführt, wobei ein enger Zusammenhang zwischen dem Warenfetischismus und der antisemitischen Ideologie nicht zu leugnen ist. Die von Moishe Postone1 entwickelte These einer Ineinssetzung beider ist dabei jedoch zu kritisieren, da sie die ganze Tragweite des Problems fetischistischer Vergesellschaftung verkennt: der ökonomische Fetisch ist nur die Spitze eines Eisberges von Fetischismen, die – einer Logik der „Wert-Abspaltung“2 folgend – alle Sphären bürgerlicher Gesellschaft durchziehen. Erst aus diesem komplexen Modell lässt sich Ideologiekritik begründen. Dahingehend scheint es besonders relevant, auch die Politikform einer fetischkritischen Untersuchung zu unterziehen. Diese Perspektive nun führt uns eine innere Spaltung der Politikform vor Augen, die sich in aufeinander verwiesenen politisch-ideologischen (systemaffirmativen) und anti-politischen (systemnegierenden) Momenten artikuliert. Beide sind Teil „linker Praxis“ im weiteren Sinne und folglich ist sowohl die pure „nicht-ideologische“ politische Praxis, wie auch die nicht-politische, rein negierende Anti-Politik eine Illusion. So what? Ich will damit sagen, dass es auf die Vermittlung ankommt.

 

(Real)Politik oder Kritik?

Ich habe versucht zu zeigen, dass es in den vorherrschenden Verhältnissen keine Position außerhalb der Widersprüche gibt. Dies beständig für sich selbst in Anspruch zu nehmen war und ist wohl eines der größten (ideologischen) Probleme der Linken. Das bedeutet jedoch nicht, dass Widersprüche einfach hingenommen werden müssen – sie sollten beständig bearbeitet werden, wobei ihre verwiesenen Seiten anfangs durchaus in ihrer Trennung nachzuvollziehen sind und erst in Folge einer meta-kritischen Einordnung in den Modus ihrer fetischistischen Konstitution zusammenzudenken sind. Emanzipatorische Aufhebung des Bestehenden kann folglich nur in und durch die Politikform geschehen, ebenso, wie sie jene radikal zerstören muss. Dabei sollte jedoch der Maßstab stimmen: es macht wenig Sinn, von der eigenen anti-staatlichen Praxis unmittelbar auf die Abschaffung real existierender Staatlichkeit zu schließen, wie dies etwa plump-anarchistische Positionen gut heißen mögen. Tatsächlich würde der Wegfall von staatlicher Herrschaft – insbesondere jener Israels – im Status Quo den ideologisch verzerrten Praxen freien Lauf lassen und damit wohl in Barbarei münden. Das heißt jedoch nicht, dass eine radikal politikkritische Haltung nicht im Binnenraum von alternativen Praxen und der theoretischen Kritik weiterhin gefördert werden kann und muss.

Quasi im Umkehrschluss hierzu ist die Forderung einer „bedingungslosen Solidarität mit Israel“ kritisch zu betrachten: einerseits kann „(real)politisch“ und maßstabsgetreu gesagt werden, dass Israel (zum Glück) nicht auf die Solidarität versprengter Linksradikaler im deutschsprachigen Raum angewiesen ist, ja jene für die tatsächliche Sicherung der staatlichen Souveränität Israels keinerlei Rolle spielen (selbst wenn sie sich ihrerseits in die kärglichen Abgründe repräsentativ-politischer Lobbyarbeit begeben). „Politisch“ ist diese Solidarität also völlig wert- und sinnlos.
Andererseits lässt sich hinter der Forderung jedoch ein ideologiekritisches Ansinnen ausmachen, dass ich im Wesentlichen in der Kritik des sekundären und als Antizionismus versteckten Antisemitismus deuten würde. Dieses Motiv ist natürlich von großer Bedeutung, gerade für innerlinke Selbstkritik, denn bekanntlich sind jene Formen des Antisemitismus heute die den historischen Verhältnissen am meisten entsprechenden. Wie aber nun damit umgehen, in der politischen und (ideologie-)kritischen „Alltagspraxis“, v.a. jener des Antifaschismus?

 

Nicht wo du stehst zählt, sondern wie du dich verhältst

Der Fehlschluss liegt in der Ineinssetzung von Kritik der Motive des (linken) Antizionismus und der politischen Forderung nach einer „bedingungslosen Solidarität mit Israel“. Letztere hat mit der Kritik antisemitischer Ideologie nichts zu tun und stellt in Reinform jene falsche, verabsolutierende Kaschierung der politischen Formwidersprüche dar, die ich oben kurz zu skizzieren versucht habe. Es handelt sich dabei wie gezeigt um eine in der Binnenlogik des Politischen sinnlose Forderung. Im Gegenteil verbaut sie aber – auf Grund ihrer Maßstabsverfehlung – die Möglichkeiten realistischer emanzipatorischer Handlungen in der Politikform. Ein politisch-zielorientier Antifaschismus, wie er den gegebenen, sich beständig nach rechts verschiebenden Verhältnissen angemessen erscheint, wird somit verunmöglicht, da die Pluralität der politischen Praxisform „Antifaschismus“ (mitsamt ihrer je zu problematisierenden ideologischen Verwerfungen) in einem rein fiktiven und dogmatisierten politischen Postulat vereinheitlicht wird. „Politisch“ ist Antifaschismus hingegen dann, wenn er auch das Ziel im Auge behält – die Zurückdrängung faschistoider und revisionistischer Tendenzen im Hier und Jetzt.

Die Ineinssetzung dieses projektiven politischen Postulats mit der (Möglichkeit von) Ideologiekritik gefährdet jedoch auch letztere. Denn werden die Widersprüche innerhalb politischer Zusammenhänge derart vereinseitigt, so wird die Auseinandersetzung mit anderen Ideologien zwangsläufig unterprivilegiert. Schließlich wird dabei aber selbst noch antifaschistische Praxis stark eingeschränkt, da sich politisch artikulierende Intersektion verschiedener Ideologien unberücksichtigt bleibt: politische Faschisierung ist nicht auf Antisemitismus zu beschränken; und jener selbst ist mitunter nicht haarscharf von anderen Ideologien zu trennen. Dies ist durchaus auch angesichts der obigen Widerspruchskonstellation zu lesen: zuweilen kann antifaschistische Praxis in einem strikten Ausschlussverhältnis z.B. zu der Möglichkeit antisexistischer Praxis stehen, wenn es etwa um Gewalt und militantes Auftreten geht. Dieses Problem mag immanent nicht zu lösen sein; aber den Widerspruch reflektieren zu können, ihn nicht unbewusst zu halten und zu kaschieren, würde gesellschaftskritisch reflektierter Praxis zuträglich sein.

In diesem Sinne sollte der Grundanspruch antifaschistischer Praxis, wie ihn D-Day im Schlusssatz formuliert, modifiziert werden: Antifaschismus hat – zwangsläufig auch „politisch“ – gegen faschistoide Entwicklungen im warenproduzierenden Patriarchat zu kämpfen. Dies wird immer ein Abwehrkampf bleiben, da Tendenzen der Faschisierung u.a. in den vielfältigen Ideologemen der Moderne angelegt sind und beständig hervorzubrechen drohen. Dieser Abwehrkampf ist nicht zuletzt auch einer des Selbstschutzes und des Schutzes von unterprivilegierten, besonders von Gewalt und ideologischen Ausbrüchen bedrohten Gruppen. Dabei wird jedoch keine widerspruchslose, „ideologiefreie“ Position zu haben sein. Jene unmittelbaren Ziele politischer Praxis ohne wenn und aber auf dem Altar der „reinen (Ideologie-)Kritik“ zu opfern, ist unmenschlich und letztlich oft selbst ideologisch.
Die Aufgabe der Ideologiekritik ist es, Ideologien im breiteren gesellschaftlichen Kontext zu analysieren und auch in linken Bewegungen beständig zu skandalisieren. Der Widerspruch, der zwischen jener bedingungslosen Kritik und den Anforderungen politischer Praxen entstehen mag, ist als solcher zu bearbeiten, aber nicht endgültig lösbar. Die Metakritik fetischistischer Vergesellschaftung unter dem Vorzeichen der Wert-Abspaltung kann hier nur erklären, wie es zu dieser Widersprüchlichkeit kommt und die Grundlage für Ideologiekritik schaffen. Sie kann jedoch die Mühen der politischen Praxis nicht lösen, Kritik und Politik zusammenzupressen verbietet sich ihr. Erst wenn dies verstanden wird, wird ernstzunehmender Antifaschismus ebenso wie radikale Ideologiekritik möglich.

Postone, Moishe. 1993. Time, Labor and Social Domination: A Reinterpretation of Marx’s Critical Theory.New York and Cambridge Cambridge University Press

Scholz, Roswitha. 2000. Das Geschlecht des Kapitalismus. Feministische Theorien und die postmoderne Metamorphose des Patriarchats.Bad Honnef: Horlemann.

2 Unter „Wert-Abspaltung“ wird die Erweiterung der (Marxschen) Kritik der warenproduzierenden Gesellschaft um die Dimension des vergeschlechtlichen Anderen verstanden. Dies reflektiert u.a. Debatte um „weibliche“ Reproduktionsarbeit, bezieht sich aber auch auf kulturell-symbolische Formen des modernen Patriarchat. Sh. (Scholz 2000)  

Autor: Elmar Flatschart

Erschienen in Unique (11/2011).

Jaecker, Tobias (2004) "Antisemitische Verschwörungstheorien nach dem 11. September"

„Seit dem 11. September 2001 haben antisemitische Verschwörungstheorien Konjunktur: Der israelische Geheimdienst Mossad stecke hinter den Terroranschlägen. Die ,jüdischen Berater‘ von US-Präsident George W. Bush hätten Amerika in den Irak-Krieg getrieben. Israel wolle die Palästinenser ‚endgültig vernichten‘. Der Autor zeigt anhand einer Analyse des deutschen Mediendiskurses, dass es sich dabei um ressentimentgeladene, stereotype Weltdeutungen handelt, die bis in die Mitte der Gesellschaft hinein verbreitet sind. ‚Die Juden‘ stellen in diesen Verschwörungstheorien das Gegenbild zur ,Wir-Gruppe‘ dar und dienen so als Projektionsfläche für sämtliche negativen Entwicklungen und Ereignisse.

Das Buch ist die erste und bislang einzige umfassende Studie zum Thema. Im ersten Teil werden zunächst die Wesensmerkmale von Verschwörungstheorien sowie des Antisemitismus erläutert und insbesondere die zahlreichen Parallelen zwischen diesen beiden ideologischen Denksystemen aufgezeigt. Es folgt eine überblicksartige historische Darstellung antisemitischer Verschwörungstheorien – von den alten antijudaistischen Verschwörungsmythen über die antisemitischen ‚Protokolle der Weisen von Zion‘ bis hin zu jüngeren Verschwörungstheorien wie den im Internet kursierenden Pamphleten von Jan van Helsing oder der These von der Macht der ‚jüdischen Ostküste‘. Im Hauptteil des Buches wird der deutsche Mediendiskurs zu den Terroranschlägen vom 11. September, zum Nahost-Konflikt und zum Irak-Krieg einer umfangreichen Analyse unterzogen. Dabei werden vor allem die verschwörungstheoretischen Themen und die antisemitischen Zuschreibungen des Diskurses beleuchtet. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie die verschiedenen verschwörungstheoretischen Berichte, Behauptungen etc. zusammenwirken, den Diskurs konstituieren und so eine bestimmte antisemitische Weltsicht festigen. Anhand von drei exemplarischen Detailanalysen wird zudem gezeigt, wie verschwörungstheoretische Texte konkret aufgebaut sind und Wirku ng entfalten. Im Schlussteil des Buches wird das Ergebnis der Diskursanalysen vor dem Hintergrund der aktuellen Konjunktur des Antisemitismus diskutiert. Schlussfolgerungen zum globalisierten Antisemitismus und zum nationalen Antisemitismus in Deutschland runden die Studie ab.“ (Quelle: s.u.)

  • Jaecker, Tobias (2004) „„, Münster: LIT

Postone, Moishe (1979) "Nationalsozialismus und Antisemitismus"

„Meine Absicht ist nicht die Beantwortung der Frage, warum dem Nazismus und dem modernen Antisemitismus ein historischer Durchbruch in Deutschland gelungen ist. Ein solcher Versuch müßte einer Betrachtung der Besonderheit deutscher Entwicklung Rechnung tragen: darüber ist zur Genüge gearbeitet worden. Dieser Essay will vielmehr untersuchen, was damals durchbrach: eine Betrachtung derjenigen Aspekte des modernen Antisemitismus, die als unabdingbarer Bestandteil des deutschen Nationalsozialismus betrachtet werden müssen. Dies auch als ein Ansatz, die Vernichtung des europäischen Judentums zu erklären, als die notwendige Voraussetzung einer adäquaten Beantwortung der Frage, warum es gerade in Deutschland geschah.“ (Quelle: s.u.)

Postone, Moishe (1979) „„, in: Merkur (Nr.1/1982), Stuttgart, S. 13 – 25

Arbeitskritik. Begriffliche und historische Hinterfragung eines alltäglichen und scheinbar natürlichen Konzepts

Unsere Sprache sagt nicht nur viel über unser Denken aus, sie zeugt manchmal auch von breiteren historischen Veränderungen, die unsere gesellschaftlichen Daseinsformen betreffen. Hierfür gibt es wohl kein besseres Beispiel als die Entwicklung des Begriffs „Arbeit“. Heute ist dieses Wort die Bezeichnung für eine sozial gültige Tätigkeit im engeren Sinn, also meist „Erwerbsarbeit“. Sein Verwendungsfeld dehnt sich aber immer weiter auf Bereiche aus, die weit über diese Definition hinausgehen. So ist bei der Erbringung von intellektuellen Werken von „der Arbeit“ die Rede, zum Beispiel von der „Schularbeit“. Noch viel persönlicher und extensiver sind neue Wortkombinationen wie „Beziehungsarbeit“ oder „Emotionsarbeit“. Der Arbeitsbegriff (nicht nur die reale Tätigkeit dahinter) ist aber auch ein umkämpfter: Die „Hausarbeitsdebatte“, die Frage nach der Definition und Wertung der mehrheitlich von Frauen erbrachten Reproduktionstätigkeiten, kann als ein zentrales Diskussionsfeld neuerer feministischer Bewegungen betrachtet werden. Eines wird schnell klar – „Arbeit“ ist ein hochrelevantes und weltweit durchgesetztes Konzept, das allerdings wenig hinterfragt wird.

Es mag verwundern, dass die breite Bedeutung des Begriffs eigentlich relativ jung ist. Ursprünglich war der Wortstamm (vgl. auch „labor“, „travail“, „rabota“) nämlich nicht Überbegriff für alle nur denkbaren Tätigkeiten, sondern vorbehalten für Tätigkeiten, die große Mühe, Qual, Kummer, Schmerz und Unterwerfung mit sich brachten. Erst allmählich wurde „Arbeit“ für spezifische Tätigkeiten von HandwerkerInnen1 verwendet. Die Durchsetzung des Wortes auch für Kopfarbeit ist in Verbindung zu setzen mit der modernen Teilung von Kopf- und Handarbeit, die in der Industriellen Revolution vollendet wurde. Eine allmähliche Totalisierung des Arbeitsbegriffs kann also in gewisser Weise parallel zur historisch-gesellschaftlichen Entwicklung des Kapitalismus gedacht werden. Überspitzt gesagt, hat sich das Bedeutungsfeld von geknechteter und mühseliger Tätigkeit absolut verallgemeinert, so dass heute potenziell jede Tätigkeit darunter fällt. Die gleichgemachte Arbeit als zentrales Unterdrückungsmoment der Moderne zu verstehen, ist also begrifflich nicht so weit hergeholt – mag dies auch den meisten vorerst sehr seltsam erscheinen.

„Arbeit ist scheiße?“

Nun ist es natürlich nicht so, dass die Durchsetzungsgeschichte der Arbeit eine konfliktfreie gewesen wäre. Abseits einer hegemonial werdenden „protestantischen Arbeitsethik“, die als frühe Durchsetzungsideologie des Kapitalismus gelten kann, gab es zahlreiche Widerstandsmomente und Kämpfe gegen die Zumutungen jener gesellschaftlichen Vereinheitlichung, die Arbeit bedeutete. In gewisser Weise können die verschiedenen frühen sozialen Bewegungen gegen die Modernisierung (von deutschen Bauernrevolten, bis Levellers/Diggers zu Ludditen) auch als Kämpfe gegen den Zwang der sich ankündigenden modernen Arbeitsverhältnisse verstanden werden.

Denn diese „gleichgemachte“ Arbeit, das ominöse begriffliche Etwas, unter dem beinahe alle Tätigkeit subsumiert wird, trat schließlich zu Beginn nicht so frei auf, wie sie es heute (in den westlichen Ländern zumindest) tut: „Arbeitshäuser“, die als unmittelbarer Zwang durch aufstrebende kapitalistische UnternehmerInnen1 und Repression eines zunächst absolutistisch-durchrationalisierenden Staats entstanden sind, zeugen davon. Die Durchsetzung der Arbeit war eine blutige, dennoch präsentiert sie sich heute als das Natürlichste und Freieste überhaupt – denn wer würde schon von sich behaupten, dass sie/er nicht arbeiten wolle? Eine unlösbare historische Paradoxie? Nein, denn gerade die weitere Entwicklung der Widerstandsbewegungen gegen das herrschende Regime liefert den Schlüssel für das Verständnis des Rätsels. Mit der organisierten ArbeiterInnenbewegung entstand erstmals eine Instanz, die den Unterdrückten nicht nur Organisation, sondern auch eine politische Subjektivität gab. Damit wurde zwar die schlimmste Not der ArbeiterInnen gelindert, ja schließlich sogar eine Teilhabe am bürgerlichen Staat erkämpft. Gleichzeitig kam es jedoch zu einer Festigung der allgemeinen Unterwerfung unter den Arbeitszwang – war doch der eigene Status als ProletarierIn Ausgang aller Emanzipationsüberlegungen.

Die implizite kategoriale Ablehnung von Arbeit, die sich früher noch mit der moralischen Kritik der Arbeit(sverhältnisse) vermengte, wurde immer mehr zugunsten einer moralischen Kritik des Klassenverhältnisses beziehungsweise der Ausbeutung durch die KapitalistInnen aufgegeben. Die ArbeiterInnenbewegung war, trotz zahlreicher Brüche und Widersprüche, eine Bewegung für die Arbeit. So wurde schlussendlich – und die Sozialdemokratie ist lebender Beweis dafür – der Widerstand gegen das System selbst Teil des Systems.

Für eine kategorische und radikaleArbeitskritik

Das Problem an der moralischen Arbeitskritik, wie sie in der ArbeiterInnenbewegung vollendet ist, ist also nicht nur ihr historisches Scheitern, sondern eben ihre ideologische Wirkung: Da sie kategorial zu kurz greift, verdeckt sie die tatsächliche Tragweite des Problems. Die Arbeitskategorie kann nämlich keine Grundlage für Emanzipation sein, da sie selbst für KnechtInnenschaft und Unterdrückung steht – auch wenn dies heute nicht (mehr) so klar ersichtlich ist. Kategorische Kritik muss sich – so verrückt dies klingt – gegen Arbeit selbst wenden.

Mit der Kritik der politischen Ökonomie kann theoretisch angeknüpft werden. Denn der Arbeitsbegriff hat seine hegemoniale Wirkung als Überbegriff nicht bloß einfach so oder weil es praktisch ist, alle Tätigkeiten unter einen Hut bringen zu können. Diese begriffliche Dimension kann nur gemeinsam mit der historisch-realen Entfaltung von Arbeit verstanden werden: Arbeit meint tätig sein für die Reproduktion des Kapitalismus, das heißt (Mehr-)Wert schaffende Tätigkeit. Marx führte hierfür einen doppelten Arbeitsbegriff ein: „Abstrakte Arbeit“, die Wert schafft und „konkrete Arbeit“, die für die spezifische Tätigkeit selbst steht. Nun kann mit Hinblick auf die totalisierte und globalisierte Waren produzierende Gesellschaft gesagt werden, dass beide Seiten eigentlich nicht scheidbar sind, und die von der Abstraktion determinierte Arbeit, der vollendete (Selbst-)Zweck der Wertschaffung, absolute Dominanz erlangt hat. Nicht nur über den Arbeitsprozess im engeren Sinn, sondern über das Leben der Menschen schlechthin. Nur von dieser Basis ausgehend lässt sich die heute überbordende (metaphorische und symbolisch vielschichtige) Bedeutungsmacht des Begriffs denken. Dieser ist eben mehr als ein bloßer Begriff, er ist eine Real-Abstraktion – die allgemeine Abstraktheit muss gemeinsam mit ihrer realen, historischen Funktion gedacht werden.

Daraus folgt ein komplexes Netz notwendiger Widersprüche für (linke) Theorie und Praxis – und vor allem die schwierige Konsequenz: Wir müssen Arbeit als solche radikal hinterfragen und auf eine Abschaffung hinstreben. Das heißt natürlich nicht, dass die darunter verstandenen Tätigkeiten allesamt abgeschafft werden sollten. Es bedeutet aber, dass ihre herrschende historische Möglichkeits- und Denkform selbst abgelehnt werden muss. Diese arbeitskritische Position konnte hier freilich nur angeschnitten werden – vielleicht hat sie der einen oder dem anderen LeserIn aber Lust auf mehr gemacht (siehe Literaturtipp). Schwierig ist allerdings auch die praktischeUmsetzung. Denn auf der Basis von Arbeit ist nicht nur keine Befreiung möglich; emanzipatorische AkteurInnen müssen sich auch der widersprüchlichen Konsequenzen bewusst sein, welche sich hieraus für ihre „eigene Arbeit“ ergeben.

Literaturtipp zum Weiterlesen:

Gruppe Krisis: Manifest gegen die Arbeit. http://www.krisis.org/navi/manifest-gegen-die-arbeit

1 Obwohl eine geschlechtergerechte Form gewählt wurde, muss an dieser Stelle auf den geringen Anteil von Frauen in der erwähnten Berufsgruppe hingewiesen werden.

 

Autor: Elmar Flatschart, 2010.

Erschienen in Unique.

Siehe

Weihnachtskritik = Religionskritik = Gut?

Oder: Warum einfache Gleichungen meist gar nicht so einfach sind

Vor mehr als 150 Jahren schrieb ein Mann mit langem weißen Bart: „Die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik.“1 Obwohl dieser Mann oft mit der Farbe Rot assoziiert wird, handelt es sich nicht um den Weihnachtsmann. Auch hat der Mythos, welcher von ihm ausging, eindeutig mehr Wahrheitsgehalt als jener um Santa Claus. Nun gilt es, jedwede Mythologie beständig zu hinterfragen und Weihnachten scheint ein guter Zeitpunkt zu sein, um dies zu tun. Zuerst stellt sich die Frage: Ist Weihnachten überhaupt noch ein Fest der Religion? Die Kritik an Kommerz, Spektakel und Leerheit des „Weihnachtsgedankens“ wird immer lauter und kommt aus verschiedensten Ecken der Gesellschaft. Diese Wahrnehmung ist so weit verbreitet, dass sich gar unheimliche Gemeinsamkeiten auftun zwischen jenen, die für und wider das Jesuskind streiten : In der Kulturkritik am „amerikanisierten“ Weihnachten treffen sich religiös/spirituell Motivierte mit KämpferInnen gegen den Kapitalismus. Scheinbar fallen der Standpunkt der Kritik der Religion und ihrer Verteidigung zusammen und bilden ein Ressentiment, das durch breite Schichten der Bevölkerung geht. Bloß: Es ändert nichts. Weihnachten bleibt wie es ist. Eine paradoxe Mischung aus nicht einholbaren Erwartungen und der schnöden Realität des Kaufens und Schenken(müssen)s.


Auf zur Religionskritik!

Beide Punkte, die ideologische Verkehrung und die von ihr sehr offen divergierende Realität, schreien nach einer Erklärung. Es bietet sich hier an, bei dem Grundgedanken zu beginnen, der zumindest für Linke viel zu unhinterfragtes Essential ist: Was bedeutet es, dass die Kritik der Religion Voraussetzung aller Kritik ist? Damit gemeint ist nämlich nicht einfach (nur), dass Religion zu kritisieren ist. Gesagt wird, dass es sich dabei um eine Vor‐Aussetzung handelt, etwas, das eben zeitlich, aber auch inhaltlich, vorauszugehen hat. Es war dies freilich das große Steckenpferd der Aufklärung, dass die alte Welt des Glaubens an übernatürliche Determination zerschlagen wurde. Nicht mehr die Religion sollte das herrschende Bindeglied von Gesellschaft sein, sondern Vernunft. War das im 19. Jahrhundert noch nicht zu Ende gebracht, so kann das vom 20.Jahrhundert mit Fug und Recht behauptet werden. Religion bleibt zwar ein wichtiger ideologischer Apparat, sie ist jedoch in vielen Teilen der Welt kein gesellschaftsordnender Faktor mehr. Sie wurde quasi aus dem Öffentlichen ins Private verschoben und reüssiert hier heute auf dem postmodernen Markt der Identitäten als eine neben anderen identitätsstiftenden Instanzen. Religion zu kritisieren ist also weiterhin legitim, es sollte jedoch der neue Kontext, in dem diese Kritik sich bewegen muss, berücksichtigt werden. Eine aufklärerische Kritik, die der Religion bloß die Vernunft gegenüberstellt und die
Meriten der modernen verwissenschaftlichten Welt hochhält, greift deshalb zu kurz. Einerseits übersieht sie die historische Veränderung, welche die gesellschaftliche Rolle der Religion durchgemacht hat – es kann nicht die eine, „objektive“ Kritik geben, sondern Religionskritik muss zuerst Kritik der gesellschaftlichen Funktion von Religion sein. Andererseits muss auch ideengeschichtlich weitergefragt werden, nämlich ob nicht der Standpunkt der Kritik selbst kritisiert werden
sollte. Denn es stimmt zwar, dass die Kritik aller vormodern‐religiösen Sinnsysteme eine notwendige Voraussetzung jedweder Emanzipation ist – in ihnen gibt es schlicht keinerlei Selbstbestimmung der Menschen, nur Schicksal. Allerdings heißt das nicht, dass dabei stehen zu bleiben ist. In vielerlei Hinsicht stellt die aufklärerische Vernunft selbst eine neue, religionsartige Ideologie dar und erfüllt so eine herrschaftslegitimierende Aufgabe2. Zweifelsohne wäre es falsch, den „Glaube an die Vernunft“ mit jenem an Gott gleichzusetzen. Die durch aufklärerische Vernunft vermittelte Herrschaftslogik verläuft in einer komplexen Verkehrung, die als „Dialektik der Aufklärung“3 fassbar ist – als gleichzeitiger Prozess der Emanzipation und Unterwerfung unter eine „instrumentelle Rationalität“, wie sie für das moderne warenproduzierende Patriarchat kennzeichnend ist. Es ist also dieser kleinste gemeinsame Nenner einer Identitätslogik der Ware, der uns in der Form der Vernunft begegnet, die strukturell männlich ist. Alle darin nicht aufgehenden Elemente des Sozialen werden abgespalten, als natürlich, inferior oder schlicht nicht bezeichenbar markiert, um schließlich als „das Andere“ projiziert zu wer‐den. Klassisch hat für diese widersprüchliche „Sphärenteilung“, die gleichzeitig auch eine Art von Arbeitsteilung ist, vor allem „die Frau“ herhalten müssen. Religionskritik, die nicht gleichzeitig Gesellschaftskritik ist und die Dialektik der Aufklärung nicht mitdenkt, tendiert folglich dazu, ideologisch zu werden. Eine gesellschaftskritische Position, die nicht die spezifisch modernen Mystifikationen avisiert, läuft hingegen Gefahr zu bloßem Moralismus zu degradieren. Kapitalismus ist für sie nur deshalb schlecht, weil er schlechte Phänomene produziert, aber nicht, weil er auf einem grundverkehrten Prinzip beruht. Soweit, so philosophisch.

Was lässt sich hiermit nun unter dem Christbaum anfangen?
Wie es sozial wirkmächtige Rituale so an sich haben, kommt es auch bei diesem zu einer Kulmination gesellschaftlicher Widersprüche. Das „Fest der Stille“ soll aus dem kapitalistischen Alltag reißen und eben jene (abgespaltenen, oft auch „weiblichen“ ) Seiten betonen, die für gewöhnlich zu kurz kommen: Intensive soziale Interaktion im Kreis der Nahestehenden (zumeist Familie), Ruhe und Besinnung (oft in Verbindung mit Spiritualität) und rituelle Reproduktion der eigenen kulturellen Identität (die durchwegs völkischkonservativ aufgeladen ist). Dass dies aber meistens nicht funktioniert, im Gegenteil oft in Entmutigung, Familientragödie oder anderen psychischen Ausnahmezuständen endet, wird nun im „Massenbewusstsein“ so verarbeitet, dass das eigene Scheitern dem vermeintlich Anderen, Kommerziellen – sinnbildlich: dem Coca‐Cola‐Weihnachtsmann – in die Schuhe geschoben wird. Und dies trifft eben nicht nur für die VerteidigerInnen der Religion zu, sondern auch für ihre KritikerInnen. Die ach so vernünftige, atheistische, vielleicht sogar linkspolitische Position fühlt sich weit erhaben über all das, was Weihnachten bedeuten soll. Sie kritisiert wahlweise Religion oder Kapitalismus, verkennt aber deren innere Gemeinsamkeit. Meine These ist, dass das Scheitern an dem Ritus Weihnachten ein viel breiteres Phänomen ist, als es seine GegnerInnen wahrhaben wollen. Denn viele sind mit der sozialen Praxis Weihnachten sozialisiert, die (oft fremden) Erwartungen, aber auch (ganz eigenen) Bedürfnisse
sind tief verwurzelt. Wir gehen nur unterschiedlich damit um. Letztlich gibt es auch keinen „richtigen“ Umgang mit Weihnachten. Es gibt notwendige Kritik, beispielsweise an dem bigotten Familien‐Kitsch, in dem vielfach ein altes (strukturell patriarchales) Familienideal gegen die Realität der neuen Patch‐Work‐Familien ausgespielt wird. Nicht nur als Ideologie ist dieser zu kritisieren, sondern auch auf Grund des Leides, das dadurch alljährlich entsteht. Es sollte aber auch hinter die Ideologien (von Religion und Vernunft) geblickt werden, denn dort befinden sich basale Bedürfnisse der Menschen, die in der herrschenden Gesellschaftlichkeit kaum einlösbar sind. Sie werden von ApologetInnen der Vernunft wie auch der Religion nicht ihrem eigentlichen Gehalt nach gesehen. Denn die Bedürfnisse nach Emotionalität (die allzu oft in Spiritualität eskamotiert werden), nach ehrlichen und nahen sozialen Bezügen (die im Korsett Kleinfamilie schon immer zum Scheitern verurteilt waren) und ja, selbst nach sinnvollen gesellschaftlichen Ritualen, sollten nicht ignoriert, sondern als normatives Ziel von Gesellschaftskritik ernst genommen werden. Weihnachten ist nicht zu retten, wie auch die Gesellschaft, die es hervorbringt. Aber gerade deshalb ist es als Phänomen auch nicht zu ignorieren, sondern kritisch aufzugreifen. Denn es bleibt letztlich niemandem erspart, persönlich einen erträglichen Umgang mit Weihnachten zu finden.

Anmerkungen

1 Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. MEW 1, S. 378

2 Ein Literaturtipp für eine kontroverse Position zum Thema: Robert Kurz: Blutige Vernunft. Horlemann.

Bad Honnef 2006

3 Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Suhrkamp.

Frankfurt/Main 2006

 

Autor: Elmar Flatschart, 2009.

Erschienen in Unique:

 

Siehe

Adorno, Theodor W. (1954) "Beitrag zur Ideologienlehre"

„In dem Vakuum dazwischen verliert sich das dialektische Problem der Ideologie: daß diese zwar falsches Bewußtsein, aber doch nicht nur falsch sind. Der Schleier, der notwendig zwischen Gesellschaft und deren Einsicht in ihr eigenes Wesen liegt, drückt zugleich kraft solcher Notwendigkeit auch dies Wesen selbst aus. Unwahr werden eigentliche Ideologien erst durch ihr Verhältnis zu der bestehenden Wirklichkeit“ (Adorno 1954, 472f.).

 

Adorno, Theodor W. (1954) „.