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Die Geburt der Hausfrau, der Kindheit und anderer Zufälligkeiten

Was heute so selbstverständlich als Hausarbeit und weibliche Tätigkeiten gilt, ist grob datiert um das 17./18. Jahrhundert entstanden. Kein einziger Bestandteil der genannten Hausarbeitsdefinition und erst recht nicht alle zusammen trifft auf die Zeit vor dem 17. Jahrhundert zu. „Hausarbeit ist relativ neuen Ursprungs, sie hat ihre Anfänge im 17./18. Jahrhundert mit den Anfängen des Kapitalismus und entfaltet sich, ungleichzeitig in verschiedenen Ländern und Regionen, in dem Zeitraum nach der industriellen Revolution. In dieser Zeit scheint sich fast alles, was Hausarbeit heute ausmacht, verändert zu haben: was es ist, wer sie tut, wie sie getan wird; die Einstellung zu ihr, ihre sozioökonomische Bedeutung, ihre Beziehung zur gesellschaftlichen und natürlichen Umwelt. Selbst der Begriff Hausarbeit scheint vor dieser Zeit nicht zu existieren, wie auch der moderne Begriff der Familie erst mit dem Aufkommen der bürgerlichen Familie im Europa des 17./18. Jahrhunderts entsteht.“ (Bock/ Duden 1976: 122)

Die Geschichte der Hausarbeit zeigt sich dabei essentiell mit einem Raumkonzept verknüpft, das einen öffentlichen Raum von einem privaten Raum trennt. Dabei streiten sich die Geister, wann dieser private Raum das erste Mal auftaucht. Viele sind davon überzeugt, den Zeitpunkt mit der Entstehung der griechischen Polis  festlegen zu können. Irmgard Schultz widerlegt diese „populäre Auffassung von oîkos als ‚Haushalt‘ oder ‚Privatsphäre‘“(Schultz 1994: 116). Klar ist jedenfalls, dass sich diese Trennung von privat und öffentlich im Mittelalter nicht aufrechterhalten lässt. Die „alte Gesellschaft“ vor der Industrialisierung beruht hauptsächlich
auf einer Familienwirtschaft, also der Gesamtarbeit von Mann, Frau, Kindern, Knechten, Mägden, Blutsverwandten und Nicht-Blutsverwandten. Wenn es auch verschiedene Formen der Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen gab, eine Trennung gab es nicht: die, zwischen häuslicher, unbezahlter und außerhäuslicher, bezahlter Arbeit. (Wir nehmen an, dass in den Häusern des Adels oder der Lehensherren die Rollen etwas differenzierter waren, die Situation der Frauen und der Männer aber nicht grundlegend anders. So gab es vielleicht einen Gutsverwalter, Soldaten, eine Amme usw., aber keinen privaten Haushalt.)

Die heute so natürlichen, weiblichen Tätigkeiten, das Kochen oder das Putzen, beschränkten sich auf das notwendigste, vor allem aber geschah es nicht  „unsichtbar“, sondern war Teil der Familienwirtschaft. Auch der „Arbeitsplatz“ Kinderstube kam nie vor. Dass Kindheit eine eigene Lebensphase ist, Kinder eine besondere Behandlung benötigen oder einen eigenen Raum, ist eine relativ neue Erkenntnis. (Bock/ Duden 1976: 133f.) Die traditionelle Form der  Säuglingsaufbewahrung war das Wickeln. Die Säuglinge, fest in Stoffbinder eingebunden, waren bewegungsunfähig. Dadurch konnten sie viele Stunden allein gelassen werden, ohne die Gefahr, dass sie sich verletzten. Sobald sie laufen lernten, waren sie kleine Erwachsene. Erst die bürgerliche Reformbewegung setzte sich für kindgerechte Erziehungspraktiken ein. Und mit dem Bürgertum entstand die Mutterrolle.

Auch die Form der Unterdrückungder Frau änderte sich. War die Vormachtstellung des Mannes in der alten Gesellschaft noch etwas, das gegen Widerstand durchgesetzt werden musste, regierte in der bürgerlichen Gesellschaft eine Idealvorstellung. So setzte sich seit dem 17. Jahrhundert das Bild der passiven, sanften und freundlichen Hausfrau und Mutter – erstmals formuliert vom englischen Puritanismus – als Norm durch. Es muss nicht dazugesagt werden, dass es einer riesigen Propagandabewegung bedurfte, um vor allem im 19. Jahrhundert die Mutterrolle als natürliche Bestimmung der Frau durchzusetzen. Diese Art der Unterdrückung scheint die Autonomie der Frauen wirkungsvoll untergraben zu haben. Statt gegen offene Gewalt, haben Frauen mit der Drohung von  Unnatürlichkeit zu kämpfen.

Der wirtschaftliche und gesellschaftliche Umbruch, die Expansion des Handwerksund des Handels, der Aufstieg des Bürgertums und die beginnende Industrialisierung scheinen die Frauen zurückgedrängt zu haben. Zwischen dem 16. und 18. Jhd. verschlechterte sich die Rechtsposition der Frauen in Frankreich. Sie verloren Verfügungsmöglichkeiten über Mitgift und Besitzungen und das Recht, selbständig einen Bauernhof oder einen Handel führen zu können. Gleichzeitig wurde versucht, die Gewalt in der Ehe zu mildern. Das Recht des Mannes, seine Frau zu züchtigen, wurde in England eingeschränkt. In Frankreich wurde das Recht auf eine Trennung von Tisch und Bett von der katholischen Kirche immer häufiger anerkannt. (ebd. 150f.) Interessant ist, dass hier eine Kluft aufzugehen scheint, zwischen unabhängigen Frauen der Unterschicht, die arbeiten mussten und den Frauen der Mittelschicht, die das neue Ideal der Hausfrau verkörperten. „Während Frauen des ‚alten Typs‘ die Revolution in Frankreich trugen, wurden bürgerliche Frauenclubs geschlossen, mit der Begründung: die Frau gehöre ins Haus.“ (ebd. 151)

Das erste Mal in der Geschichte werden arbeitende Frauen mit dem Vorwurf konfrontiert, ihren Mann und ihre Kinder zu vernachlässigen. So heißt es in einem  medizinischen Untersuchungsbericht über die Lage der Landarbeiterinnen in England 1864: „Das, was Sitte und Anstand der Landmädchen vor allem zerstört,  scheint mir in ihrem Gefühl der Ungebundenheit zu liegen. Und das haben die Frauen dadurch, daß sie eine bezahlte Arbeit haben … Alle Verdienstmöglichkeit gibt den Frauen einen vulgären Charakter, in ihrer Erscheinung und in ihren Verhaltensweisen, während Abhängigkeit im Unterhalt von dem Mann die Quelle allen bescheidenen und freundlichen Umganges ist.“ (Knitteringham 1975, zit. nach Bock/Duden 1976: 151f.)

Zur Entstehung der modernen Hausfrau – also dem Übergehen von dem Familienideal eines kleinen Teils der Bevölkerung (dem städtischen Bürgertum), hin zu einem Phänomen, das sich auch in der Arbeiterklasse ausbreitet – skizzieren Bock und Duden zwei Entwicklungslinien. Die eine ist der Übergang von der  Hausherrin zur Hausfrau. Das hing einerseits mit der verringerten Zahl an willigen DienstbotInnen zusammen, andererseits mit der Mechanisierung des Haushalts, wodurch nun die Hausherrin in der Lage war, die Tätigkeiten alleine zu verrichten. Die zweite Entwicklungslinie ist der „Aufstieg“ der Hausmädchen zur Hausfrau. Diese sahen in der Fabrikarbeit eine Möglichkeit, der prekären Arbeit als Dienstbotin zu entgehen. Durch diese (wenn auch immer noch niedrigst bezahlte) Selbständigkeit eröffnete sich für sie die Möglichkeit, eine Ehe zu schließen und einen eigenen Haushalt zu führen.

Die Industrialisierung brachte weitreichende Veränderungen mit sich. Immigration und Verstädterung waren direkte Folgen. Dadurch wurden aber auch häusliche Arbeiten notwendiger als früher, z.B. durch den Rauch aus Fabrikschloten, der sich auf Wäsche und Häuser absetzte oder durch die Überfüllung in den  Mietskasernen. Konnten beim Entstehen der Fabriken die männlichen und weiblichen meist durch Landflucht und Migration beschafften Arbeitskräfte noch einfach „verheizt“ werden, verlangte das Elend und die daraus resultierende sinkende Leistungsfähigkeit, aber auch die Arbeitskämpfe, einen anderen Umgang. Neue Mittel wurden erforderlich, um die Arbeitsfähigkeit und -willigkeit zu garantieren. Die Qualität der Arbeitskraft geriet in den Fokus.

Es wurde entdeckt, dass höhere Löhne eine Konsumgesellschaft ermöglichen. Die durch Maschinen – Waschmaschine, Nähmaschine – erfolgte Reduzierung der Hausarbeit bei den Haushalten, die es sich leisten konnten, wurden durch neue Tätigkeiten aufgewogen: das Einkaufen und die Kindererziehung. Kinder sollten selbst gestillt werden, Frauen sollten das frühkindliche Reinlichkeitstraining überwachen und den geforderten Kampf gegen die Onanie führen. Die moderne Arbeitswelt erforderte die Erziehung zu Disziplin und Rationalität. Monotonie und Tempo des Fließbandes verlangten nach einer extremen physischen und psychischen Zurichtung der  Arbeiter. „Die Produktivität der Lohnarbeiter zu fördern, zu sichern, ja zu schaffen“ (ebd. 165) das war die neue Aufgabe der Frau.

Das „domestic science movement“ setzte, dem Vorbild Taylor in der Fabrikarbeit folgend, in den USA den Slogan Effektivität in der Haushaltsführung durch.  Tausende Frauen wurden vom Department of Agriculture ausgesandt, um andere Frauen in die Prinzipien moderner Haushaltsführung zu unterweisen. Ratgeber und Zeitschriften erledigten den Rest. Henry Ford richtete in seiner Auto-Fabrik ein Sociological Department ein, mit der Aufgabe, in den Haushalten der  Arbeiterfamilien bezüglich Moral, Arbeitsfreude und Effizienz nach dem Rechten zu sehen. (ebd. 164)

Die Frauen wurden so zu einem essentiellen Bestandteil der Lohnarbeit. Ein unbezahlter und unsichtbarer Bestandteil. „Die Subsumption der Hausarbeit unters Kapital muss nach zwei Seiten hin begriffen werden: einerseits begann man, den Männern höhere Löhne zu bezahlen, gerade so hoch, daß sie eine Frau in  ökonomischer und sexueller Abhängigkeit halten konnten; andererseits machte die Unterwerfung der Frau und die Durchsetzung der Familie als Organisationsform unbezahlte Hausarbeit in der Arbeiterklasse es möglich, den Arbeitern geringere Löhne zu zahlen, als es die Klassenkämpfe bis zu den Revolutionen von 1917/1919 erforderlich gemacht hätten. Das Kapital konnte den streikenden Arbeitern gewissermaßen die Frauen als Kompensation anbieten und die Frauenfeindlichkeit der Arbeiterbewegung hat diesen Handel akzeptiert.“ (ebd. 177)

Die Situation heute ist wieder eine andere. Der Slogan der „Wahlfreiheit“, der explizit nicht an Männer gerichtet ist, stellt es der Frau frei zwischen Karrierefrau- Rabenmutter, Karrierefrau-frigide-Kinderlosigkeit und Hausmütterchen zu wählen. Das Bild der Arbeitenden und die Anforderungen, die an sie gestellt werden,  haben sich in fortgeschrittenen Marktwirtschaften verändert. Dementsprechend wurde die Kindheit zur Investitionsphase, die heute mit Pränatal-Diagnostik, der Beschallung schwangerer Bäuche mit Mozart, bis zum Unterricht im Kindergarten ihre Vollendung gefunden hat.

 

Anmerkungen
Bock, Gisela/Duden, Barbara: Arbeit aus Liebe-Liebe als Arbeit. Zur Entstehung der Hausarbeit im Kapitalismus. In: Beiträge zur Berliner Sommeruniversität. Berlin, 1976

Schultz, Irmgard: Der erregende Mythos vom Geld, Frankfurt, 1994

 

Autorin: Therese Fuchs

Erschienen in Politix (30/2011)

 

Adorno, Theodor W. (1951) "Minima Moralia"

„Es gibt kein vergleichbares Werk in der philosophischen Literatur des 20. Jahrhunderts: Minima Moralia von Theodor W. Adorno ist eine Sammlung von 153 Reflexionen aus dem beschädigten Leben, die in der Kultur- und Gesellschaftskritik neue Maßstäbe gesetzt hat und auch ein halbes Jahrhundert nach der Erstveröffentlichung gleichermaßen durch Aktualität und analytische Schärfe verblüfft.“ (Quelle: http://www.litde.com/autoren/adorno-theodor-w.php )

  • Adorno, Theodor W. (1951) „„, Frankfurt a.M.: Suhrkamp

Hawel / Blanke (Hg.) (2012) "Kritische Theorie der Krise"

„Die Wirkungsgeschichte der Kritischen Theorie, die unter anderem mit Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Karl Korsch, Georg Lukács und Herbert Marcuse verbunden ist, deckt sich weitgehend mit jenem »kurzen 20. Jahrhundert«, das der britische Historiker Eric Hobsbawm mit dem Ersten Weltkrieg beginnen und 1991 mit der Auflösung der bipolaren Weltordnung enden lässt. Es ist ein Jahrhundert voller Turbulenzen, Krisen und Katastrophen. Seither, so Hobsbawm, haben wir es mit einem Ableben, gar mit einem Untergang auch der westlichen Welt zu tun, die sich in einem »freien Fall« befinde. Seit 2007 erlebt diese Welt eine fundamentale Finanz- und Wirtschaftskrise, die in einzelnen Ländern verheerende Auswirkungen hat. 2009 wurden Dimensionen erreicht, die mit jenen aus dem Krisenjahr 1929 vergleichbar sind, wenngleich bisher nicht zu erkennen ist, ob sich auch die politischen Entwicklungen wiederholen werden. Die bisher schon erkennbaren Parallelen sind allerdings Anlass genug, die Aktualität der Kritischen Theorie zu überprüfen.“ (Quelle: http://dietz-shop.rosalux.de/index.php?id=9921&backPID=9921&tt_products=512 )

INHALT

  • Moritz Blanke, Marcus Hawel: Zur Aktualität der Kritischen Theorie
  • Marcus Hawel: Krise und Geschichte. Zum Entstehungszusammenhang kritischer Theorie
  • Lutz Brangsch: Krisentheorien und Krisenkonzepte in der Geschichte des Kapitalismus
  • Roger Behrens: »Crisis, what Crisis?«. Kulturindustrie, Kritik und Krise
  • Annette Ohme-Reinicke, Michael Weingarten: Krise und Bewusstsein. Zur Aktualität sozialpsychologischer Grundlagen des Krisenbegriffs der Kritischen Theorie
  • Daniel Keil: Krisenkonstellationen. Überlegungen zum Zusammenhang von Krise und gesellschaftlicher Ausgrenzung
  • Asaf Angermann: Das schlechte Gewissen der Krise. Adorno, Badiou und die »ethische« Ideologie
  • Anne Steckner: Die Waffen schärfen. Zum Kritikbegriff bei Karl Marx
  • Tatjana Freytag: Kein Altern der Kritik

 

  • Hawel / Blanke (2012) „„, Berlin: Dietz Verlag

Arbeitsmigrationspolitik in Österreich

Arbeitsmigrationspolitik ist ein gutes Beispiel zu zeigen, wie Arbeitsmarktpolitik in Österreich gedacht und umgesetzt wird. Gerade der Blick auf die „Randgruppe“ der ArbeitsmigrantInnen – so meine Vermutung – kann Tendenzen verdeutlichen, die sonst weniger in den Blick geraten würden. Der Text soll einen kurzen Überblick über Eckdaten der Arbeitsmigrationspolitik geben und versuchen, Kontinuitäten und Verschiebungen darzustellen.

 

Protektionismus, Gastarbeit und Korporatismus

Grundlegend für die Arbeitsmarktpolitik Österreichs im 20. Jahrhundert war der Gedanke des Protektionismus, der im Inlandsarbeiterschutzgesetz von 1925, verlangt von den freien Gewerkschaften, beschlossen von der christlich-sozialen Regierung, zum Ausdruck kam. Grundlegend war auch die Einbindung der Sozialpartner in die Bewilligungsverfahren von ausländischen Arbeitskräften. Als es in den 1950er Jahren zu einer starken Nachfrage nach  Industriearbeitskräften kam, lehnten die Gewerkschaften die Forderung nach einer Liberalisierung der Beschäftigung von ausländischen Arbeitskräften zunächst ab. Der Ausbau der Verbändekooperation – konkret die Angliederung eines Ausschusses für Lohnfragen an den bestehenden für Preisfragen – wurde von Julius Raab (Bundeswirtschaftskammer) akzeptiert, im Gegenzug ein Zugeständnis bezüglich der Zulassung von „Fremdarbeitern“ von Franz Olah (ÖGB) verlangt.  (Wimmer, 1986:7) Ein Kontingent von 47.000 ausländischen Arbeitskräften, die temporär in Österreich arbeiten durften, wurde für das Jahr 1962 vereinbart. „Die Art und Weise wie Österreich hier zu Beginn der 60er Jahre in eine bewußte Ausländerbeschäftigungspolitik eintrat, ist außerordentlich wichtig für das Verständnis der politischen Form, in welcher in Österreich eine politische Materie wie die Ausländerbeschäftigung bestimmt wird: Die Entscheidung über den Umfang und die (regionale bzw. branchenmäßige) Verteilung der zuzulassenden Ausländer am österreichischen Arbeitsmarkt fallen ausschließlich in den sozialpartnerschaftlichen Gremien der Verbändekooperation; diese Entscheidungen wurden von den zuständigen Ministern … zur Kenntnis genommen und exekutiert.“ (Wimmer, 1986:7)

Formal-rechtliche Grundlage blieb dabei bis 1976 bemerkenswerterweise die “Reichsverordnung über ausländische Arbeitskräfte” – 1933 in Deutschland  beschlossen und nach dem Anschluss auch in der Ostmark gültig – die 1945 durch das Reichsüberleitungsgesetz in österreichisches Recht transformiert wurde. Diese Praxis der Quotensetzung durch die Sozialpartner hielt sich bis 1975, wie das Paradigma der temporären „Gastarbeiterbeschäftigung“, das auch darin zum Ausdruck kam, dass eine Integrationspolitik erst in den 1990er Jahren in die Diskussion kam. Bis dahin wurde von einem „Rotationsprinzip“ ausgegangen.  Deutlich wurde dieses Scheitern vor allem mit der Erdölkrise und der folgenden Rezession, die die Nachfrage nach Arbeitskräften reduzierte. Es kam zum Anwerbestopp und der Beendung der „Touristenbeschäftigung“. Die Beschränkung des Neuzugangs zum Arbeitsmarkt hatte aber einen paradoxen Effekt: „konnten Ausländer zuvor erwarten, nach einer vorübergehenden Rückkehr in ihre Heimat wieder in Österreich Beschäftigung zu finden, so war es angesichts der restriktiven Politik klüger, im Land zu bleiben und die Familie rasch nachzuholen.“ (Bauböck/Perchinig, 2006: 730f)

 

Insitutionalisierung und Parlamentarisierung

Mit dem Ausländerbeschäftigungsgesetz (AuslBG) von 1975 bekam das Sozialministerium eine große Rolle zugesprochen, das System der Sozialpartnerschaft wurde ebenfalls institutionalisiert, ironischerweise zu einem Zeitpunkt, als die Kontingente rapide an Bedeutung verloren. Das Prinzip, Arbeitsmigrationspolitik nicht über Einreisebestimmungen, sondern über den Zugang zum Arbeitsmarkt zu regeln, blieb aber erhalten. Bauböck und Perchinig sprechen von einer Behandlung der MigrantInnen als „Verschubmasse am Arbeitsmarkt“ und der „extremen Abhängigkeit der Ausländer von ihren Arbeitgebern“. (Bauböck/Perchinig, 2006: 731) Dabei kommt die paradoxe Situation des Gewerkschaftsbundes zum Ausdruck, dessen Ziel es war, vor allem die Interessen der  inländischen ArbeiterInnen zu vertreten, auch weil die Zustimmung der Zulassung von AusländerInnen zum Arbeitsmarkt als Druckmittel in   sozialpartnerschaftlichen Verhandlungen verwendet werden konnte.

Das Prinzip der Regulierung über den Zugang zum Arbeitsmarkt änderte sich erst in den frühen 1990er Jahren. Die hinter verschlossenen Türen verhandelte Thematik wurde – insbesondere durch den Aufstieg der FPÖ unter Jörg Haider, aber auch durch den Einzug der Grünen ins Parlament – verstärkt zum öffentlich diskutierten Thema. Kraler nennt das die „Parlamentarisierung“ der Migrationspolitik (Kraler, 2011: 30). Die Agenda wanderte vom Sozial- ins Innenministerium und ein neues Paradigma tauchte auf: regulierte Zuwanderung. „Since the early 1990s, immigration has rapidly reemerged as a highly contested, divisive, and  explosive challenge for public policy across Europe. Active labor migration has been rediscovered after a prolonged hiatus. Under the influence of employer associations, governments once again contemplate and have quickly implemented new labor recruitment schemes across Europe.” (Menz, 2010:1f.)

 

Managed migration und Saisonarbeit

Die Notwendigkeit einer Reform wurde nicht nur vom Innenministerium, sondern von einer breiten Gruppe von Akteuren wahrgenommen. Konsens war die Ineffizienz des bestehenden Systems. Eine Quotenregelung sollte her, die zwischen Kategorien von MigrantInnen und verschiedenen Einwanderungsmotiven  unterschied und so effektiver managen und regulieren können würde. Die Gewerkschaft wollte ein AuslBG, das besser unterscheiden sollte zwischen neu  Eingewanderten und schon hier Ansässigen, um letztere gegen erstere zu verteidigen. Außerdem wurden effizientere Maßnahmen gegen irreguläre Beschäftigung gefordert.

Die Reform des AuslBG 1990 kam den Forderungen der Gewerkschaft aber nur teilweise nach: die neu eingeführte Bundeshöchstzahl legte fest, dass höchstens 10% der Beschäftigten in Österreich ausländische StaatsbürgerInnen sein dürfen. Kategorien nach den verschiedenen Aufenthaltsgründen und Quoten für diese Kategorien wurden mit dem Fremdengesetz 1992 eingeführt, wobei die exakte Beschreibung der Kategorien und die Quotensetzung in den folgenden Jahren immer wieder abgeändert wurden. So auch im sogenannten „Integrationspaket“ 1997. Festgeschrieben wurde das Prinzip „Integration vor Neuzuzug“. Interessanterweise wurde gleichzeitig der Status eines Saisoniers ohne Recht auf Aufenthaltsverfestigung und Familiennachzug für die Landwirtschaft und den Fremdenverkehr eingeführt.

 

Politische Wende, Schwächung der Sozialpartnerschaft, EU-Erweiterung

Die Saisonarbeitsregelung ist auch weiterhin einen Blick wert. So wurde gleichzeitig mit dem „Ausländerpaket“ der schwarz-blauen Regierung 2002 die Arbeitsmigration von un- oder wenig qualifizierten Personen beendet (Quoten gab es nur mehr für qualifizierte Menschen – sogenannte „Schlüsselarbeitskräfte“, mit einem konkreten Jobangebot und einem Mindestverdienst von 60% der Höchstbeitragsgrundlage der SV), die Saisonarbeit von 6 auf 12 Monaten und auf alle Branchen ausgeweitet. Die Saisonarbeit stieg um mehr als das zehnfache von 5.161 Bewilligungen 1999 auf 56.500 im Jahr 2002 an und wurde so zur neuen  Gastarbeit (Kraler 2011:36). Demnach war es auch nicht verwunderlich, dass das in der Öffentlichkeit vermittelte Ziel – die Reduzierung der Immigration – nicht erreicht wurde.

Die Erweiterung der EU um zehn neue Mitgliedstaaten im Jahr 2004 wurde in Österreich in Bezug auf die Öffnung des Arbeitsmarktes mit Besorgnis gesehen. Österreich kündigte von vornherein an, alle Übergangsfristen auszuschöpfen und seinen Arbeitsmarkt volle sieben Jahre lang geschlossen zu halten. Ausnahmen gab es für bestimmte Berufe. Gemeinsam mit Deutschland erhielt Österreich eine Sonderregelung, wonach die Dienstleistungsfreiheit für Unternehmen aus den neuen Mitgliedstaaten in bestimmten Sektoren aufgehoben wurde. Durch eine Koalition aus FPÖ, AK und ÖGB wurde der Ausschluss von Saisonniers vom Bezug des Arbeitslosengeldes – auch wenn sie ein Jahr ununterbrochene Beitragsleistung vorweisen konnten – gesetzlich festgeschrieben. Das sollte verhindern, dass Saisonarbeit als Tür für permanente Einwanderung „missbraucht“ würde. FPÖ und Gewerkschaft waren sich einig, dass Saisonarbeitskräfte nicht integriert werden sollten. 2005 beschloss die mittlerweile schwarz-orange Regierung gemeinsam mit der SPÖ eine erneute Reform des Fremdenrechts. Änderungen waren teilweise notwendig, um EU-Recht umzusetzen. Durch die im Vertrag von Amsterdam festgelegte Vergemeinschaftung der Einwanderungspolitik wurden wesentliche  Bereiche der Integrationspolitik für lang-ansässige MigrantInnen der nationalen Entscheidungshoheit entzogen. (vgl. Bauböck/Perchnig, 2006: 738) Die Art, wie die EU-Direktiven umgesetzt wurden, erhöhte die schon bestehende Ungleichheit von Aufenthaltsstatuten, was für einige ImmigrantInnen – vor allem die, die unter EU-Recht einreisten – Verbesserungen brachte. Ebenso wurden weitere Restriktionen wurden beschlossen: so wurde die Zahl der Voraussetzungen für einen Daueraufenthaltsstatus weiter eingeschränkt auf a) Schlüsselarbeitskräfte, b) Personen mit einem Minimum-Verdienst von 1,300 Euro im Monat, c) Familienmitglieder von ansässigen MigrantInnen (es sei denn die Quote ist nicht schon ausgeschöpft), d) Personen mit einer dauerhaften Aufenthaltsgenehmigung in einem anderen EU-Staat.

 

RWR-Card für Hochqualifizierte und Stammsaisonniers für die Landwirtschaft

Nach dem Koalitionsabkommen zwischen SPÖ und ÖVP 2008 sollte gemeinsam mit den Sozialpartnern eine Rot-Weiß-Rot-Karte ausgearbeitet werden. Diese sollte nach Wunsch des Innenministeriums das Quoten-System für die Zuwanderung ersetzen, um selbige noch genauer auf die Bedürfnisse des österreichischen Arbeitsmarktes abzustimmen. Auf Vorschlag der Sozialpartnerkommission wurde ein 3-Säulen Modell ausgearbeitet: 1. Hochqualifizierte mit (dem „richtigen“) Uni-Abschluss ohne konkrete Jobzusage, 2. Fachkräfte in Mangelberufen und 3. sonstige Schlüsselkräfte. Mit der RWR-Card wurde auch die EU-Richtlinie für die “Blue Card” umgesetzt, allerdings außerhalb des Säulenmodells. Interessant hier auch wieder, dass gleichzeitig das AuslBG eine neue Kategorie von  „Stammsaisoniers“ vorsah. AusländerInnen, die in den Jahren 2006 bis 2010 in der Land- und Forstwirtschaft jeweils mindestens vier Monate im Rahmen der bisherigen Saisonkontingente beschäftigt und entsprechend zur Sozialversicherung angemeldet waren, können sich bis April 2012 beim AMS registrieren lassen. Damit werden die Stammsaisoniers als gesonderte Gruppe erfasst und haben außerhalb der vorgesehenen Saisonkontingente einfacheren Zugang zu einer saisonalen Beschäftigung in der Landwirtschaft.

 

Schlussfolgerungen

Es zeigt sich in der Arbeitsmigrationspolitik 1. eine Verschiebung von der Regulierung über den Zugang zum Arbeitsmarkt zu einem Mischsystem mit dem AuslBG 1992, das Kategorien von MigrantInnen festlegt, teilweise aber eine konkrete Jobzusage voraussetzt – hin zu einem Punktesystem, auf dem die RWR-Card beruht.

2. Verändern sich die Rolle, die einzelne Akteure zunehmend. Vor allem ist hier natürlich auf die Rolle der Sozialpartner einzugehen. Waren sie die dominanten  Akteure bis in die 1970er Jahre, verschiebt sich dann der Einfluss sukzessive in Richtung Ministerien (und hier vom Sozial- ins Innenministerium) bzw. Parlament. Dennoch sind Sozialpartnerverbände nicht von der politischen Bühne verschwunden, nur spielen sie nun eher die Rolle von Think-tanks, denn alleinige  Entscheidungsinstanz. Parteipolitik darf natürlich nicht vergessen werden – v.a. der Aufstieg der FPÖ und der Einzug der Grünen ins Parlament veränderten die innenpolitische Lage und die Diskussion über Migration (Asyl wurde das vorherrschende Thema, Arbeitsmigration geriet immer mehr aus dem öffentlichen Blickfeld). Hier muss auch auf den Einfluss der Medien und die öffentliche Diskussion hingewiesen werden.

3. Gerade in Bezug auf Diskurse sind die Differenzen zwischen Arbeitgeber- und ArbeitnehmerInnenverbänden höchst interessant. Sie lassen sich mit der grundsätzlichen Frage nach der optimalen Größe des  Erwerbspersonenpotenzial auf den Punkt bringen. Während Gewerkschaften Schwerpunkt: Arbeit Vollbeschäftigung als Ideal anstreben, ist für ArbeitgeberInnen ein großes Erwerbspersonenpotenzial von Vorteil, weil dadurch der Wettbewerb steigt. Sehr gut kommt diese „positive“ Sicht auf Migration in einem Paper von  CEPS, ein europäischer Think-Tank zum Ausdruck: “A key priority should be to fully embrace the role of migration in enhancing Europe´s competitiveness, stimulating growth and responding to the challenges of ageing population and a shrinking labour force in the EU. …As…migrants make significant economic contributions, while also boosting productivity, acting as a job-market safety valve, reducing pay pressures and raising the economy´s… rate of growth. In addition, owing to their age profile, they generally pay more in taxes than they receive in welfare services.” (Carrera et.al. 2011: 11) Was auffällt, ist einerseits eine Differenz zwischen einer Rhetorik, die Zuwanderung als positives Phänomen betrachtet – als Humankapital, als Faktor für Wirtschaftswachstum, als Heilmittel gegen die problematische demographische Entwicklung, als SteuerzahlerInnen – und einer Realität, die MigrantInnen oft in Niedriglohnbereiche und prekäre Arbeitsverhältnisse drängt. Symptomatisch dafür ist das neueste Fremdengesetz, das gleichzeitig mit der Einführung der RWR-Card zur Anwerbung qualifizierter Arbeitskräfte die Saisonarbeit faktisch zur dauerhaften Beschäftigung, immer noch ohne Recht auf Aufenthaltsverfestigung, ausbaut.

Andererseits aber kann ein Sozialstaat nur funktionieren, wenn er auf einer klaren Trennung von In- und AusländerInnen beruht. So wurden in Österreich erst in den 90er Jahren Fragen der Aufenthaltssicherheit erörtert und damit vom Paradigma „Gastarbeiter“ abgegangen. Aber auch heute zeigt der Ausschluss von Saisonniers vom Bezug des Arbeitslosengeldes, für den sich ÖGB und FPÖ gemeinsam eingesetzt hatten, wie versucht wurde, den Österreichischen Sozialstaat vor der unrechtmäßigen „Ausnutzung“ durch MigrantInnen – ein im Boulevard viel diskutierter Tatverdacht – zu schützen. Beim Bezug von Familienbeihilfe oder Mindestsicherung sind Drittstaats-Angehörige, im Unterschied zu Angehörigen eines EU-Mitgliedstaates, erst mit einem auf Dauer ausgerichteten Aufenthaltstitel gleichgestellt. Die Bemühungen der EU zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit – z.B. die gegenseitige Anrechenbarkeit von Pensionsansprüchen – ist hier sicher ein bemerkenswerter Schritt, der zu verfolgen ist. (1) Bis jetzt war es – um in den vollen Genuss sozialstaatlicher Absicherung zu kommen – immer noch am besten, kontinuierlich (wenn geht ohne Betreuungszeiten) in einem Land beschäftigt zu sein. Die „keynesianisch dominierte Arbeitsidylle der 50er bis 80er Jahre“, der mein Kollege Marko Novosel in seinem Artikel wortreich nachtrauert – sie hat für eine kleine Schicht männlicher, einheimischer Arbeiter gegolten.

 

(1) siehe ausführlich: Stephan Leibfried (2010): Social Policy. Left to the Judges and the Markets? in: Wallace et.al.: Policy Making in the EU, Oxford University Press

Carrera, Sergio/Atger, Anais Faure/Guild, Elspeth/Kostakopoulou, Dora (2011): Labour immigration policy in the EU: a renewed agenda for Europe 2020. CEPS Policy Brief No. 240

Bauböck, Rainer/Perchinig, Bernhard (2006): Migrations- und Integrationspolitik, in: Dachs, Herbert u.a. (Hg.), Politik in Österreich, das Handbuch, Manz, Wien

Kraler, Albert (2011): The case of Austria. In: Giovanna Zincone/ Rinus Penninx/Maren Borkert (eds.): Migratory Policy Making in Europe. IMISCOE. Amsterdam

Menz, Georg (2010): The Political Economy of Managed Migration, Oxford University Press

Wimmer, Hannes (Hg. 1986): Ausländische Arbeitskräfte in Österreich, Campus Verlag

 

Autorin: Therese Fuchs

Erschienen in Politix (31/2012)

Über die eine Krise, die viele ist

Kapitalismus und Krise

In den Medien hören wir heute mal mehr und mal weniger über „das Kriseln“. Nachdem der große Kladderadatsch  an den Finanzmärkten scheinbar vorüber ist, geht es nun mehr um die Maßnahmen der Politik und die Schwierigkeiten, welche Staatenlenker_innen bei der Regulierung der Wirtschaft haben. Von Sparpaketen ist die Rede und Rettungsschirmen. Die Lage wird als immer noch kritisch dargestellt, dem „Hausverstand“ wird suggeriert, dass „wir“ sparen müssen – für unser Land, unsere Kinder und sowieso, weil ja jede_r weiß, dass niemand – auch kein Staat – ewig über seine/ihre Verhältnisse leben kann. Das Chaos und die Hilflosigkeit von 2008, als plötzlich zahlreiche wichtige Banken – die Gralshüter des gegenwärtigen Geldsystems – kollabierten oder nur mit Mühe und Not davor bewahrt werden könnten, die folgenden Einbußen in der Realwirtschaft und alles, was im engeren Sinne der „unsichtbaren Hand“ der Ökonomie, dem freien Lauf des Marktes zugesprochen wurde, wird heute möglichst beiseitegeschoben. Aus einer Krise der Ökonomie wird eine politische Aufgabe gemacht, der Staat erscheint dabei in neuem Glanze und die Politiker_innen geben sich als souveräne Manager_innen einer Krise, deren Ursachen lieber gar nicht mehr diskutiert werden. Was in der Krise ist, wird – den allgemein immer kurzzeitiger werdenden kollektiven Gedächtnisleistungen entsprechend – vergessen oder beiseite geschoben.

Offensichtlich sind nun zahlreiche ideologische Effekte am Werk, um das Gros der Bevölkerung in Sicherheit zu wiegen. In manchen Ländern wie Griechenland oder Spanien, aber zunehmend auch England und den USA, wo sich die sozialen Verhältnisse bereits so verschärft haben, dass dies nicht mehr gut funktioniert, wird zugleich auch der Repressionsapparat massiv ausgebaut. Die Politik erfährt ein Revival, das in „neoliberalen Zeiten“ ungewöhnlich scheint. Das Motto lautet also „wir haben alles unter Kontrolle“.

Doch viele Menschen zweifeln immer mehr daran. Und das ist auch berechtigt. Denn hinter der „Sachpolitik“ versteckt sich eine weitestgehend blinde „Reparaturmentalität“: es werden Löcher gestopft, ohne den Grund für das Leck auch nur annähernd beseitigen zu können. Das muss auch so sein, da die politischen Funktionsträger_innen weder wissen, was wirkliche Problemlösungen wären, noch die tatsächlichen Ursachen hinter dem, was sie als zu regulierende Probleme wahrnehmen, kennen. Doch selbst wenn sie umfassend in Gesellschaftskritik bewandert wären – die Möglichkeiten politische Gestaltung sind von vorneherein begrenzt. Ebenso wie eine Bank trotz aller Tricks nicht Geld aus dem Nichts schaffen kann, ist es auch politisch nicht möglich, außerhalb gewisser Grenzen „radikale“ Veränderungen zu bewirken. Es gibt gewisse „Formlogiken“, an die sich alle AkteurInnen halten müssen.

Wenn wir also von Krise sprechen, dann stellt sich die Frage, wie und ob diese Formlogiken in die Krise gekommen sind, denn wirkliche Krise unterscheiden sich von bloßen „Schwierigkeiten“, die von systemerhaltenden Akteur_innen durchaus gemeistert werden können, eben dadurch, dass sie auf einer ganz grundlegenden Ebene angelegt ist. Anders als oberflächliche, konjunkturelle Schwankungen, die ganz normal sind in einer widersprüchlichen Gesellschaft wie dem warenproduzierenden Patriarchat, ist eine Krise etwas Systemisches und muss folglich auch die ganze Gesellschaft betreffen. Diesem Verständnis nach, lag die Krisenhaftigkeit schon immer in einem System angelegt, das von vorneherein ein durch und durch Widersprüchliches war. Denn es produziert sich gegenseitig eigentlich umfassend ausschließende Seiten, die aber trotz – bzw. gerade auf Grund – dieser Gegensätzlichkeit nicht nur koexistieren konnten, sondern aufeinander verwiesen blieben. Der Widerspruch zwischen Gebrauchswert – dem eigentlichen „Sinn“, den Waren für uns haben können – und Tauschwert – der Austauschbarkeit als einzig relevantem Kriterium für Produktion – ist hier der offensichtlichste. Es gibt allerdings vielerlei Widersprüche, Dualismus, die strikt aufeinander verwiesen sind, welche einem ähnlichen Muster folgen: ein Universales, ist auf ein Anderes verwiesen, spaltet dieses aber dennoch immer ab. Ähnlich wie der Tauschwert am Schluss immer „gewinnt“, kann etwa auch gesagt werden, dass die patriarchale Seite, eine hegemoniale Männlichkeit schlussendlich immer obsiegt. Krise auf dieser grundsätzlichen Formebene würde bedeuten, dass eine immer schon widersprüchliche, aber bisher eine gewisse Stabilität und „progressive“ Entwicklung aufweisende Formlogik zunehmend aus dysfunktional wird, auf ihrer Basis kaum noch Weiterentwicklung möglich ist – sehr wohl aber ein nahezu unbegrenzter, langsamer rezessiver Prozess der (Selbst-)Zerstörung.
Was uns „oberflächlich“ nun als Krisenerscheinungen begegnet – also v.a. die Wirtschaft und vermittelt, als „Manager_innen und Retter_innen der Wirtschaft, die Politik – ist deshalb nicht alles. Wenn wir von der oben genannten Formkrise sprechen, so muss sich diese – wenn auch auf unterschiedliche Weise – in der gesamten Gesellschaft artikulieren. Wer genauer schaut, wird aber auch feststellen, dass es in vielen anderen Bereichen kriselt. Ich möchte kurz 10 gesellschaftliche „Sphären“, „Bereiche“ bzw. Aspekte nennen, in denen von Krise im obigen, systemischen Sinne geredet werden könnte. Diese Auswahl ist selbstverständlich willkürlich und selektiv – es ließen sich sicherlich noch zahlreiche andere Aspekte finden.

10 Krisenmomente

  1. Krise der „sozialen Wohlfahrt“

Ganz unmittelbar betrifft uns schon lange eine Krise der sozialen Wohlfahrt. Während zwar nominell die Wirtschaft wächst, verteilt sich das Einkommen seit den 1970ern immer ungleicher und die sozialen Absicherungen, welche nach dem zweiten Weltkrieg geschaffen wurden, wurden auch in den wohlhabenden Ländern sukzessive abgebaut. Dies wird oft mit dem Vormarsch des „Neoliberalismus“ in Verbindung gebracht und somit rein „politisch“ erklärt. Zweifellos spielen Kämpfe und Kräfteverhältnisse für den Verlauf dieser Entwicklung eine Rolle. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass der Wohlfahrtsstaat und seine fordistische Basis auch selbst in eine Krise gekommen war, die in den 1970ern eben nur durch wirtschaftspolitische Veränderungen bearbeitet werden konnte. Dass dabei Wirtschaftswachstum und soziale Wohlfahrt für einen Großteil der Menschen sich entgegengesetzt entwickelten, ist die Konsequenz von veränderten Akkumulationsweisen, die wiederum mit neuen Produktionsverfahren zu tun hatten, denn diese nötigten andere Unternehmensstrukturen auf und machten staatliches „deficit spending“ immer schwieriger.

  1. Ernährungskrise

Die Krise der sozialen Wohlfahrt macht sich in unterschiedlichen Ländern natürlich unterschiedlich geltend. Während es in manchen Ländern nur „relative“ Einbußen sind, d.h. es den Leuten zwar immer „weniger viel“, aber doch besser ging, ist es in den Ländern der globalen Peripherie zu viel drastischeren Einschnitten gekommen. Viele ehemalige „Entwicklungsländer“ – v.a. jene in Afrika – entwickeln sich schon lange nicht mehr. Im Gegenteil kommt es weltweit zu Krisen der Ernährung – und das obwohl die Ressourcen vorhanden sind und technisch noch viel mehr möglich wäre. Die Disproportionalität zwischen Möglichem und Verwirklichten kann als besonders deutlicher Indikator neuer Krisenqualität gelten. Denn dass heute immer mehr Menschen immer weniger „Ernährungssouveränität“ haben, ist nicht Schicksal und auch nicht Naturgewalt, sondern hat – krisenhaftes – System.

  1. Krise des Raumregimes

Ähnliches könnte über die räumliche Entwicklung gesagt werden. Einerseits wächst die Welt durch IT und Globalisierung immer näher zusammen, die Grenzen werden durchlässiger und die nationalstaatlichen Räume verlieren ihre Homogenität. Zugleich steigen jedoch Nationalismus, Ausgrenzungsdenken und auch die materiellen Grenzen sind für viele – wenn auch nun selektiv – geschlossener als je zuvor. Die „Festung Europa“ schottet sich ebenso ab, wie die USA gegenüber Südamerika. Das zunehmende Ungleichgewicht zwischen Räumen des Zentrums und der globalen Peripherie spitzt sich zu, während zugleich Unternehmen transnational agieren und auch politische Regulation immer weniger von einzelnen Nationalstaaten gemacht werden kann.

  1. Ökologische Krise

Dies ist besonders deshalb der Fall, weil sich nicht nur die „Wirtschaft“ globalisiert hat, sondern auch ihre natürliche Grundlage nicht mehr einfach im „Behälterraum“ eines einzelnen Staates gedacht werden kann. Gesellschaftliche Naturverhältnisse – die komplexe Wechselwirkung von Mensch und Natur – haben sich dynamisiert, globalisiert und sind ebenfalls als krisenhaft zu bezeichnen. Die Art und Weise wie wir uns heute die Welt „zum Untertan“ machen ist, zerstört jene immer stärker und mit globalen Auswirkungen. Die Klimakrise ist hierfür ein Beispiel. Es trifft nur natürlich erneut die südlichen Länder stärker, als jene auf der nördlichen Halbkugel. Dennoch sind die Probleme ökologischer Art auch tiefergehender Natur – denn der Kapitalismus baut intrinsisch auf einer „billigen“ energetischen Versorgung durch fossile Rohstoffe auf. Diese werden jedoch immer knapper. Insofern ist nicht nur das Klima und generelle Knappheit mancher Ressourcen ein Problem, auch steuert die energetische Basis allen unseres Wirtschaftens auf eine finale Krise zu, d.h. mit „Peakoil“ & Co wird ökonomische Versorgung qua Arbeit und Markt immer weniger möglich werden. Ein nicht fossiler Kapitalismus ist allerdings schwer vorstellbar, würde er doch gravierende Umbrüche in den gesellschaftlichen Naturverhältnissen notwendig machen, die ein Maß an Planung voraussetzen, das in einer geldvermittelten Ökonomie kaum machbar ist.

  1. Krise des Subjekts

Es sind jedoch nicht nur „materielle“ und uns „äußerliche“ Aspekte in der Krise. Tatsächlich kann ist auch das moderne Subjekt in krisenhaften Tendenzen gekommen. Die Subjektwerdung in der Moderne war zwar immer schon widerspruchsvoll, jedoch gab es mehr oder weniger hegemoniale Modelle, an denen sich ein Gros der Menschen orientieren konnte. „Subjekt“ – als innerhalb der Verhältnisse handlungsfähig – zu werden, war mit mehr oder weniger klaren (und immer ausschließenden) Kriterien verknüpft. In der sogenannten „Postmoderne“ fehlen jedoch zusehends derartige Vorschläge, es wird nicht nur theoretisch vom „Tod des Subjekts“ gesprochen, auch scheinen den Individuen immer stärker Anknüpfungspunkte für Identifikationen abhanden zu kommen. Dies führt nur zu einer Zunahme und Pluralisierung psychischer Defekte, die immer mehr dem Muster einer schleichenden Depression folgen. Als „Volkskrankheit“ ist diese aber weniger ein medizinischer Extremfall, sondern die Normalität in Zeiten der Flexibilisierung des Subjekts, die zugleich auch eine Überlastung der Einzelnen mit sich bringt: das postmoderne Subjekt muss zugleich alles können, möglichst umfassende und vielschichtige Handlungsfähigkeit aufweisen, darf dabei aber schon gar nicht mehr als Subjekt, als geschlossenes, mit Identität versehenes Wesen, auftreten. Der Widerspruch zwischen Außen und Innen spitzt sich dabei ebenso zu wie jener zwischen den unterschiedlichen Ansprüchen im Inneren selbst. Dies ist nicht nur aus individueller oder moralischer Ebene bedauernswert, bzw. ein gutes Geschäft für Psychotherapteut_innen. Auch sind „funktionierende“ Subjekte in letzter Instanz ein Indikator für eine „funktionierende“ Gesellschaft. Die behelfsmäßige (Wieder-)Herstellung halbwegs funktionierender Subjekte ist und bleibt die Aufgabe von einem immer größer werden Therapie- und Psychopharmaka-Sektor. Auch wenn wir die Funktionsweisen dieser Gesellschaft schon immer ablehnten, so bedeutet eine Krise der Subjekte nicht, dass etwas Besseres nachkommt. Zugleich können die umfassenden individuellen Effekte dieser Krise wohl auch nicht einfach ignoriert werden, diese Form der Krise betrifft uns alle in sehr umfassender Weise.

  1. Krise der Geschlechterverhältnisse

Ähnlich verhält es sich auch mit den Geschlechterverhältnissen, die ja konstitutiv für die Subjektwerdung sind. Mit der Herausbildung des modernen warenproduzierenden Patriarchats, hat sich eine Geschlechterordnung etabliert, die auf klarer Zweigeschlechtlichkeit und einer diesbezüglichen materiellen, symbolischen und innerpsychischen „Arbeitsteilung“ beruht. Diese Ordnung, die den Mann privilegierte und Frauen aus der öffentlichen Aushandlungssphäre abspaltete, war und ist zentral für das Funktionieren des Gesamtsystems. Produktion und Reproduktion des Systems folgten lange Zeit einer geschlechtlichen Markierung. Seit dem Ende des Fordismus und seines „Alleinernährermodells“ ist dieses System ins Wanken geraten. Frauen konnten sich zumindest in vielen Ländern des Zentrums einen Zugang zu einer – partiellen – Subjektwerdung erkämpfen. Es war und ist jedoch weiterhin notwendig, dass sie ein Gros der Reproduktionsarbeiten ausführen. Dies führt immer mehr zu einer „doppelten Vergesellschaftung“, die einerseits materielle Schwierigkeiten produziert – neben Full-Time-Job, Hobbies und eigenständigem Leben sind Haushalts- und Familientätigkeiten kaum noch bewerkstelligbar. Aber andererseits auch die viel zentralere psychische, emotionale und zwischenmenschliche „Reproduktionsarbeit“ erschwert. Nicht zuletzt auch dann, wenn Frauen zwischen „männlichen“ Habitus-Konzepten, die für Führungspositionen notwendig sind und „weiblichen“ Rollenmustern, die auf Unterwerfung und dienender Haltung aufbauen, changieren. Männer sind ihrerseits durch das Brüchigwerden ihrer Alleinherrschaft verunsichert und verarbeiten dies auf unterschiedliche – meist destruktive – Weise. Insgesamt wird die immer schon existierende Verbindung von Patriarchat und kapitalistischer Produktionsweise zunehmend dysfunktional, was erneut im ersten Moment gar nicht so unsympathisch wirken mag. Dennoch – solang keine andere, bewusste Ordnung der Geschlechterbeziehungen mitsamt der komplexen vergeschlechtlichten Begehrensformen entsteht, kann die Krise des Alten nicht gefeiert werden, da sie zunehmend individuelles und v.a. auch zwischenmenschliches Leid hervorbringt.

  1. Krise der Kultur

Gleichartiges könnte für die Entwicklung der Kultur gesagt werden. Während die Aufstiegsgeschichte des warenproduzierenden Patriarchats auch eine der kulturellen Homogenisierung war – wobei eindeutig westlich-weiße Vorschläge privilegiert wurden und in kolonialer Tradition alle anderen überformten –, zeichnet sich spätestens seit der Revolte der 1968er Generation eine pluralisierte Kulturentwicklung ab, in der mehr oder weniger alles möglich ist, aber zugleich nichts mehr Relevanz hat. Die Devianz und Subversion ist soweit in das System integriert, dass sie selbst schon funktional geworden ist. Das „Anderssein wollen“ ist gewissermaßen die letzte sich verschiebende Grenze, in der dann doch alle Gleich sind. Dies alles findet mehr denn je unter dem Vorzeichen einer kulturindustriellen Reproduktion statt. Paradoxerweise kommen „verdinglichte“ Momente der Vereinheitlichung so mit den ihnen entgegenwirkenden Versuchen des „Individuellen“ zusammen. Beide Seiten, die Vereinheitlichung und Gegenbewegungen gegen sie, werden so immer mehr ident, was sich etwa in der gegenwärtigen Internetkultur von Facebook und Co zeigt: Selbstinszenierung und Institutionen der kulturell-symbolischen Repräsentanz fallen in einer absolut „flexiblen“ Kultur zusammen, der es zunehmend schwieriger fällt, eine ästhetische und normative Selbstlegitimation zu finden. Sinnbildlich dafür stehen „virtuelle Welten“ die heute bereits in diversen Online-Spielen geschaffen werden – nicht nur werden Einzelne von ihnen verschluckt, im Status Quo fällt es auch zunehmend schwer, dies wirklich zu kritisieren. Auch wenn für viele die „Realität“ der „Fiktion“ noch irgendwie vorzuziehen zu sein scheint, schwinden wirkliche – d.h. gesellschaftlich grundierte – normative Argumente, um dies zu untermauern. Kultur als „Zweck“ – und damit die Sinnhaftigkeit menschlichen Schaffens (über die bloße Re-Produktion hinaus) – scheint sich in einem Prozess der Desintegration zu befinden. Dies betrifft nun eben nicht nur die „Hochkultur“ oder gewisse Medien „da draußen“, sondern kommt erneut zunehmend bei den vereinzelten Einzelnen an.

  1. Krise der Politik

Weitergehend ist aber nicht nur die kulturelle Vermittlung zwischen den Menschen in eine Sackgasse geraten, auch das, was vermeintlich der direkten Aushandlung und Absicherung der gesellschaftlichen Organisation dient, die Politik, ist in eine tiefe Krise geraten. Diese Krise ist nicht nur eine Legitimationskrise, die sich darin äußert, dass immer weniger Menschen wählen gehen bzw. immer mehr „politikverdrossen“ sind, der Politik gar nicht mehr zutrauen, eigenständige sinnvolle Entscheidungen treffen zu können. Diese Erscheinungen verweisen auf eine tiefere Krise der politischen Form selbst, die stets schon Ausdruck der gesellschaftlichen Möglichkeiten und Spielräume war. Wann immer Politik relevant werden wollte, musste sie sich mit Macht- und Hegemoniekämpfen auseinandersetzen, die wiederum vom Ziel repräsentativer Herrschaft geprägt waren. Politik war nie als unmittelbare Verhandlung der Interessen möglich, sie war vielmehr immer schon eine Frage der Spielräume, die – demokratisch oder nicht – der Gestaltung offenstanden. Grenzen waren indirekt (funktionieren der „Wirtschaft“) und auch direkt (Steuern) immer „ökonomischer“ Natur, ebenso wie die Ökonomie durch die Politik begrenzt wurde. Die Dialektik von beiden ließ mal mehr und mal weniger eine relative Autonomie zu. Diese Spielräume werden aber offensichtlich immer kleiner, was sich darin zeigt, dass Ökonomie und Politik sich immer mehr verzahnen. In der Politikwissenschaft ist die Rede von „Governance“ – einer Mischung aus ökonomischem Rationalitätskalkül und demokratisch-politischer Aushandlung – oder „Post-Demokratie“ – des formalen Fortbestands von demokratischen Institutionen, während sie immer mehr durch selbstzweckhafte Zwänge ausgehöhlt werden. Die politische Form als solche gerät in die Krise und dies bedeutet v.a. auch (gespürte) Handlungsunfähigkeit, Ratlosigkeit und Verlust von Perspektiven der Veränderung. Diese artikuliert sich durch unterschiedliche Lager natürlich verschiedenartig: blinde Verleugnung und stupide Rückbesinnung auf absolut anachronistisches war beispielsweise schon immer ein „kontrafaktischer“ Bewältigungsmodus von Krisen der Handlungsfähigkeit.

  1. Krise der Linken/emanzipatorischen Bewegungen

Ganz besonders die Krise der Politik, aber auch alle anderen krisenhaften Tendenzen, sind natürlich an linken Bewegungen nicht vorübergegangen. Für die linke traumatisch war dabei das Ende des „real existierenden Sozialismus“ als systemischer Alternative. Leider war dieser Sozialismus aber nicht nur nie eine Alternative zur herrschenden Gesellschaftlichkeit (eher eine – sehr einzigartige – Spielart); seine Krise war auch bereits Ausdruck der viel tiefer gehenden Krise im Kern der gesellschaftlichen Formen. Dies wurde aber nicht verstanden und damit endgültig die widersprüchliche eigene Position in und außerhalb der Form anerkannt. Im Gegenteil wurde entweder an alten dogmatischen Modellen festgehalten oder die Akteur_innen machten es sich in der neuen, krisenhaften Vergesellschaftung „gemütlich“ und suchten – quasi-flexibel – ihre „individuelle Emanzipation“ in einer zerstreuten „Mosaiklinken“, die kaum noch untereinander kommunizierte geschweige denn sich organisierte, sondern sich den „Single-Issue-Kämpfen“ verschrieb. Dies alles führt auch zu einer „Krise der Linken“, die sich nicht nur quantitativ äußert – viel weniger Menschen versuchen sich heute überzeugt und aktiv an radikaler Systemüberwindung –, sondern v.a. auch den qualitativen Mangel an gesellschaftlicher Relevanz der Linken, die höchstens noch in Sternschnuppenartigen „Mikrorevolten“ kurz aufleuchtet, um schnell wieder irrelevant zu werden. Dieser Mangel hängt maßgeblich auch mit den historischen Verhältnissen zusammen, in denen sich die Linke bewegt: gerade weil sie die Krise nicht wahrnimmt, kann sie Widersprüche nicht reflektieren und die eigenen und gesellschaftlichen Bruchstellen nicht bearbeiten.

  1. Krise der Ökonomie

Das Verstehen der gesamtgesellschaftlichen Krise hängt nun maßgeblich mit einem Verständnis der ökonomischen Krise zusammen. Dies ist nicht so, weil die Ökonomie alles andere „bestimmen“ würde. Wir haben es mit einer gesellschaftlichen Totalität zu tun, in der all das, was uns im Alltag als eigenständige „Sphären“ erscheint, innerlich miteinander verwoben und voneinander abhängig ist. Die ökonomische Sphäre nimmt aber insofern eine Sonderrolle ein, weil sie das eigentliche „Movens“ der Gesellschaft ist. Das heißt also nicht, dass – krude materialistisch – das „Materielle“ immer bestimmend ist. Umgekehrt ist die Gesellschaft so verfasst, dass sie auf die sozialen Beziehungen verdinglichend wirkt und dabei das Dinglich-Ökonomische eine quasi-automatische, selbstzweckhafte Eigendynamik entwickelt. Das ist eine spezifische Eigenschaft dieser einzigartigen historischen Formation und müsste nicht generell so sein. Diese Eigendynamik ist aber in allen Bereichen der Gesellschaft wiederzufinden und eben nicht nur am Markt oder in der Fabrik, sie artikuliert sich nur anders. Dies ist es, was Karl Marx mit „Fetischismus“ meinte. Das Verhältnis von (Selbst-)Bestimmung und Unterwerfung, Subjekt und Objekt, steht stets am Kopf. Am Ende setzt sich beständig ein Herrschaftsmoment durch, das die Menschen entmündigt, knechtet und erniedrigt – und das gerade durch ihre eigenen Handlungen hindurch. Die ökonomische Sphäre ist gewissermaßen die Spitze eines Eisbergs der gesellschaftlichen Verhältnisse, die so verfasst sind. Nicht weil das Materiell-Stoffliche als solches alles bestimmen würde, ist die Ökonomie treibendes Moment, sondern gerade weil das Materiell-Stoffliche eine bestimmte, (gesamt-)gesellschaftliche Eigendynamik entwickelt hat, die sich nun – samt dem, was sie beständig abspalten muss – durchsetzt, ist dies der Fall. Die ernsthafte Krise der Ökonomie, die bisher nur verschoben werden konnte, aber in ihrer umfassenden Wirkung keineswegs bewältigt wurde, ist also auch nur der offensichtlichste Ausdruck einer gesamtgesellschaftlichen Krise, in der wir schon seit längeren stecken. Deshalb unterscheidet sich diese Krise auch von anderen „Wirtschaftskrisen“, von denen sonst oft die Rede ist. Denn diese waren bloße Durchsetzungs- oder Bereinigungskrisen in einer Aufstiegs- und Entwicklungsgeschichte des warenproduzierenden Patriarchats. Heute erscheint eine Fortentwicklung innerhalb dieser gesellschaftlichen Formen nicht mehr möglich. Dies äußert sich nun besonders krass in der Wirtschaft, die längst schon von fiktiven Werten, riesigen „Blasen“ und einer planlosen, scheuklappenartigen und nur noch kurzfristig denken könnenden „Trial&Error“ Mentalität dominiert ist.

Status quo – quo vadis?

Diese Aufzählung versteht sich zweifelsfrei als kursorische und tentative Annäherung – sie kann keien absolute Geltung beanspruchen und sollte in vielerlei Hinsicht kritisiert und verändert werden. Es geht jedoch v.a. darum, einmal einen Perspektivenwechsel zu wagen – den Gedanken zuzulassen, dass die herrschende Gesellschaft ihren eigenen Kriterien nach tatsächlich in einer umfassenden Krise sein kann. Die Verdrängung der Möglichkeit dieses Gedankens erscheint heute mehr denn je unbegründet und selbst noch ideologisch. Klar muss dabei jedoch sein, dass auch wenn nun vielleicht vieles dafür spricht, dass wir es mit einer ganz grundsätzlichen und finalen Krisenhaftigkeit unseres Gesellschaftssystems zu tun haben, dies das natürlich nicht heißt, dass das warenproduzierende Patriarchat einfach zusammenbricht, d.h. aufhört zu existieren. „Krise“ ist immer als Prozess zu verstehen. Und ebenso wie die grundlegende ökonomische Logik des Kapitalismus – aus Geld mehr Geld zu machen – eine nach menschlichen Kriterien ziel- und maßlose darstellt, ist auch die krisenhafte Entwicklung als ganze ziel- und maßlos. D.h. die bisherigen Verhältnisse werden nicht von einem Tag auf den Anderen aufhören zu funktionieren, es werden sich jedoch die Krisensymptome immer stärker und umfassender durchsetzen. Anzunehmen ist, dass es für viele von uns dadurch um Vieles ungemütlicher wird, gerade hier im Westen wird wohl die Illusion der breiten „Mittelschicht“ (mitsamt ihrer Ideologien der relativen Stabilisierung) endgültig begraben werden müssen. Wie sich dies gestaltet, können wir uns am Beispiel der Entwicklung der Länder der Peripherie in den letzten Jahrzehnten ungefähr vorstellen. Die Widersprüche werden krasser und die Verhältnisse komplexer, insofern als es zu einer neuen „Vielschichtigkeit“ kommt, in der weiterhin funktionale und herausgefallene Elemente zunehmend verdichtete nebeneinander existieren. Die einzigen wirklich denkbaren Grenzen sind unmittelbar stofflicher Natur: irgendwann haben wir vielleicht unseren Planeten so weit zerstört, dass er uns nicht mehr trägt; oder uns alle durch selbstverschuldete physische Gewalt ausgelöscht – letzteres ist ja spätestens seit der Entwicklung der Nuklearwaffen auch eine realistische Option.

Das heißt nun auch, dass Wandel trotz allem nur durch bewusste Veränderung, durch soziale Bewegungen mit wirklich radikaler Intention möglich ist. Es stellt sich dann natürlich die Frage, wie und wo dieser Wandel zu erreichen ist. Hierzu kann die kritische Theorie keine letztgültigen Antworten geben, sondern bestenfalls einige Richtwerte liefern.
Wichtig ist es, das System wie auch die Krise als integrale Zusammenhänge zu verstehen, in der alle Sphären und scheinbar unabhängigen Einheiten miteinander verwoben sind. Abstrakt lässt sich dann sagen, dass wir letztlich alles überwinden müssen, wenn wir auch nur eine Herrschaftsachse wirklich loswerden wollen. Wo emanzipatorische Praxis im Hier und Jetzt ansetzen soll, lässt sich hieraus aber nicht ableiten, überhaupt lässt sich das schwierig sagen. So kann es etwa gerade in Zeiten ökonomischer Verschärfungen zu einer Zunahme sexualisierter/patriarchaler Gewalt kommen, die ganz unmittelbar auf die Individuen wirkt. Weil das eine sehr unmittelbare „Krise“ ist, welche direkt die physische/psychische Integrität beeinflusst, ist es naheliegend, hier anzusetzen. Überhaupt spricht viel dafür, dass Praxen im Binnenraum des immer noch „Privatisierten“, im Kern des Subjekts – und damit v.a. zentral den Geschlechterverhältnissen – eine vorgeordnete Rolle zugestanden wird. Gewissermaßen in der Umdrehung der Eisbergmetapher, muss oft mit dem ganz konkreten und unmittelbar wahrgenommen „Krisen“, dem wirklichen Leiden an den Verhältnissen begonnen werden.
Das reicht aber sicherlich nicht aus, wenn es dabei bleibt. Die Abstraktionspyramide muss auch nach unten hin beackert werden, wenn unmittelbare Praxen wirklich funktionieren möchten, nicht bloßes „Löcherstopfen“ verbleiben sollen. Dies zu bewerkstelligen bleibt letztlich nicht nur eine Aufgabe der ganz unmittelbaren Praxis, es müssten auch wieder vermehrt „Theorien der Praxis“ mit geringerer Reichweite entwickelt werden, die sich jedoch – anders als etwas bornierte Schemata des Marxismus-Leninismus – von vorneherein ihrer eigenen Relativität und Widersprüchlichkeit ständig mitbewusst sind. Ganz zentral wird es für das Ausbrechen aus dem kontrollierten bzw. immer wieder subsumierbaren Status Quo einer pluralisierten „Mosaiklinken“ sein, dass sie sich wieder umfassender vernetzet und organisiert. Sie müsste wohl auch zu so etwas wie einem – gebrochen, sich selbst beständig hinterfragenden, aber doch handlungsfähigen – „Meta- und Gegensubjekt“ der Aufhebung der herrschenden Totalität werden.

Dies ist freilich schwieriger denn je. Die kritische Theorie kann hierfür v.a. den wichtigen Hinweis geben, dass die internen Widersprüche dieses Systems ernstgenommen werden müssen, nicht vereinseitigend kaschiert werden dürfen, sondern beständig im Kopf zu behalten und aktiv zu bearbeiten sind. Dies ist ein mühsamer Prozess. Schon das einzelne Ich sträubt sich bekanntlich gegen solcherlei Widersprüche und stellt lieber beruhigende Identitäten her, nicht anders gestaltet es sich mit kollektiven Identitäten. Trotz des immer wiederkehrenden Scheins von solchen versöhnten Zuständen, sollte stets bedacht werden, dass jene im Hier und Jetzt letztlich nicht zu haben sind – und auch als partielle Räume immer unwahrscheinlicher werden, je umfassender sich die gesamtgesellschaftliche Krise durchsetzt. Die einzige wirkliche Lösung ist also, mit dem Ganzen samt seiner Widersprüche radikal zu brechen. Aktionen wie der M31 stellen sicherlich wichtige Schritte in diese Richtung dar. Es darf jedoch nicht bei derartigen „Events“ bleiben, das Bewusstsein über die Krise und die sich in ihr zuspitzenden Widersprüche muss auch ins Alltagsleben getragen werden bzw. dort im Kleinen gesucht und bearbeitet werden. Nur wenn wir von „unten“ und von „oben“, im „Kleinen“ und im „Großen“, „privat“ und „öffentlich“ zugleich aufhören, den Kapitalismus zu machen, können wir aus der Krise eine wirkliche Systemveränderung machen.

Autor: Elmar Flatschart

Manuskript des Vortrags beim m31-Aktionstag.

 

Beigewum / Attac (2010) "Mythen der Krise"

„Zu Beginn der Wirtschafts- und Finanzkrise schien der Neoliberalismus, ja der Kapitalismus insgesamt, schweren Legitimationsschaden zu nehmen. Doch mittlerweile haben sich seine Apologeten erholt und versuchen mit allen Mitteln, ihre Lehren zu verteidigen. Mit Mythen wie „Die AmerikanerInnen haben über ihre Verhältnisse gelebt“ oder „Die Einkommensverteilung war nicht das Problem“ wird Ursachenverleugnung betrieben. Mit Ansagen wie „Die ‚braven‘ Banken sind unschuldige Opfer“ oder „Protektionismus ist die größte Gefahr“ wird versucht, eine Abkehr von der dominierenden wirtschaftspolitischen Doktrin zu verhindern. Mit Warnungen wie „Jetzt droht die Hyperinflation“ wird beschleunigt in Sackgassen gesteuert. Doch auch antineoliberale Ansätze wie die Zinskritik erweisen sich als wenig weiterführende Alternativen.

Die AutorInnen nehmen sich kursierende Mythen rund um Krisenursachen, Krisendynamiken sowie Krisenlösungen vor und prüfen sie auf ihre Plausibilität. Die auch für Nicht-ÖkonomInnen eingängige Darstellung macht dieses Buch zur willkommenen Argumentationshilfe für all jene, die dem herrschenden Krisen-Management kenntnisreich entgegentreten wollen.“ (Quelle: s.u.)

  • Beigewum / Attac (2010) „„, Hamburg: VSA

Mit Public Value zur Gegenhegemonie?

Versuch einer historisch-materialistischen Policy Analyse des neuen ORF-Gesetzes

Diplomarbeit, Wien 2010.

Autor: Martin Bartenberger

 

Abstract

Das Ziel dieser Arbeit ist der Versuch einer historisch-materialistischen Policy Analyse des neuen ORF-Gesetzes, unter besonderer Berücksichtigung der Rolle des Public Value Konzeptes. Theoretischer Bezugspunkt ist dabei die Hegemonietheorie Antonio Gramscis. Mit deren Hilfe wird von einer neoliberalen Hegemonie, auch im Bereich der Medienpolitik ausgegangen.

Daran schließt sich die Fragestellung an, welches Potenzial das Public Value Konzept besitzt diese neoliberale Hegemonie zu unterlaufen. Zunächst wird gezeigt, dass das Public Value Konzept in seiner Widersprüchlichkeit und seiner Entwicklung (Mark H. Moore, BBC, EU) als „postneoliberal“ zu verstehen ist. Diese allgemeinen Überlegungen werden schließlich im zweiten großen Teil, der empirischen Realanalyse des Konflikts ums neue ORF-Gesetz, weitergeführt.

Zuerst wird die Vorgeschichte der aktuellen Entwicklungen skizziert, sowie die zentralen Akteure des gegenwärtigen Konflikts vorgestellt. Die Analyse des Konflikts selbst verläuft im Wesentlichen chronologisch unter besonderer Berücksichtigung der Rolle der EU.

Danach wird der eingangs erwähnten zentralen Fragestellung nachgegangen – die der Arbeit auch ihren Titel gegeben hat: Wie ist das gegenhegemoniale Potenzial des Public Value Konzeptes zu bewerten?

Das Ergebnis des Konflikts ist das neue ORF-Gesetz. Dieses wird im letzten Kapitel analysiert, mit Blick auf die Rolle des Public Value Konzeptes sowie der hegemonietheoretisch inspirierten Frage: Welchen Akteuren ist es gelungen eigene Interessen im Gesetz zu verallgemeinern? Dabei kommt diese Arbeit zum Schluss, dass sich die neoliberale Hegemonie im aktuellen ORF-Gesetz fortschreibt.

Stützle, Ingo (2003) "Staatstheorien oder "BeckenrandschwimmerInnen der Welt vereinigt euch!"

„Bürgerliche Geschichtsschreibung hat es an sich, Begriffe, die aus der modernen Verfasstheit der Gesellschaftsformation entspringen, in die Vergangenheit zu projizieren und somit gesellschaftliche Verhältnisse zu naturalisieren. In linken Auseinandersetzungen wurde dies bisher fast ausschließlich in Bezug auf Nation und Volk ausführlicher diskutiert. Für viele weitere Begriffe des politischen Alltags wurde diese Auseinandersetzung bisher kaum geführt. So für den Begriff der „Arbeit“ und des „Staates“.“ (Quelle: s.u.)

Stützle, Ingo (2003) „„, in: Grundrisse (Nr.6/2003), Wien, S.27 – 38

Kurz, Robert (1999) "Schwarzbuch Kapitalismus"

„Der Lebensstandard breiter Bevölkerungsgruppen sinkt, die Arbeitslosigkeit nimmt zu, der Ausweg in die Dienstleistungsgesellschaft erweist sich als Illusion. Die Marktwirtschaft wird mit ihren Produktivitätssprüngen – Automation und Globalisierung – nicht mehr fertig.

Robert Kurz seziert die Marktwirtschaft, zeichnet die drei industriellen Revolutionen nach und belegt, wie der Kapitalismus aus weitverzweigten Wurzeln und vielen Quellen im Laufe der Geschichte Varianten seiner inneren Widersprüchlichkeit hervorgetrieben hat: Liberalismus und Sozialdemokratie, den Staatsozialismus als Form nachholender Modernisierung, aber auch immer wieder Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus.

Es zeigt sich, dass die bisherigen Gegenentwürfe das Wesen der kapitalistischen Geldmaschine ungangetastet ließen und selber nur Trendsetter jener permanenten ‚Modernisierung‘ waren, die sich zunehmend als antisozialistischer Drohbegriff entpuppt. Aber ausgerechnet in demselben Maße, wie er von allen Parteien zum alternativlosen Schicksal der Menschheit erklärt wird, treibt der Kapitalismus heute auf eine ausweglose Situation zu.“ (Quelle: s.u.)

  • Kurz, Robert (1999) „„, Frankfurt a.M.